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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

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Kein Wunder ist es, dass die Vögel auch die feinsten
Unterschiede in der Luftbewegung fühlen, denn ihre ganze
Oberfläche ist für dieses Gefühl in Thätigkeit. Ihre lang und
breit ausgestreckten Flügel bilden einen empfindlichen Fühl-
hebel, und namentlich in den Häuten, aus denen die Schwung-
federn hervorwachsen, wird das feinste Gefühl sich konzen-
trieren, wie in unseren Fingerspitzen.

Während also beim eigentlichen Segeln die Geschicklich-
keit die Hauptrolle spielt, ist die Flugarbeit selbst theoretisch
gleich Null.

Wenn der Mensch jemals dahin gelangen sollte, die herr-
lichen Segelbewegungen der Vögel nachzuahmen, so braucht
er dazu also weder Dampfmaschinen noch Elektromotore, son-
dern nur eine leichte, richtig geformte und genügend beweg-
liche Flugfläche, sowie vor allem die gehörige Übung in der
Handhabung. Auch dem Menschen muss es in das Gefühl
übergegangen sein, dem jedesmaligen Wind durch die richtige
Flügelstellung den grössten oder vorteilhaftesten Hebedruck
abzugewinnen. Vielleicht gehört hierzu weniger Geschick-
lichkeit als auf hohem Turmseil ein Gericht Eierkuchen zu
backen, wenigstens wäre die Geschicklichkeit hier auch nicht
schlechter angewandt; und auch viel gefährlicher dürfte das
Unternehmen nicht sein, mit kleineren Flächen anfangend und
allmählich zu grossen übergehend, das Segeln im Winde zu
üben.

Unsere Künstler auf dem Seil sind übrigens zuweilen
nicht ganz unerfahren in den Vorteilen, die ihnen der Luft-
widerstand bieten kann. Vor einigen Jahren sah ich in einem
Vergnügungslokal am Moritzplatz in Berlin eine junge Dame
auf einem Drahtseil spazieren, welche sich mit einem riesigen
Fächer beständig Kühlung zuwehte. Auf den Unbefangenen
machte es den Eindruck, als sei die Produktion durch die
Handhabung des Fächers erst recht schwierig, worauf auch
der Applaus hindeutete. Demjenigen aber, welcher sich mit
der Ausnutzung des Luftwiderstandes beschäftigt hat, konnte
es nicht entgehen, dass jene Dame den graziös geführten

Kein Wunder ist es, daſs die Vögel auch die feinsten
Unterschiede in der Luftbewegung fühlen, denn ihre ganze
Oberfläche ist für dieses Gefühl in Thätigkeit. Ihre lang und
breit ausgestreckten Flügel bilden einen empfindlichen Fühl-
hebel, und namentlich in den Häuten, aus denen die Schwung-
federn hervorwachsen, wird das feinste Gefühl sich konzen-
trieren, wie in unseren Fingerspitzen.

Während also beim eigentlichen Segeln die Geschicklich-
keit die Hauptrolle spielt, ist die Flugarbeit selbst theoretisch
gleich Null.

Wenn der Mensch jemals dahin gelangen sollte, die herr-
lichen Segelbewegungen der Vögel nachzuahmen, so braucht
er dazu also weder Dampfmaschinen noch Elektromotore, son-
dern nur eine leichte, richtig geformte und genügend beweg-
liche Flugfläche, sowie vor allem die gehörige Übung in der
Handhabung. Auch dem Menschen muſs es in das Gefühl
übergegangen sein, dem jedesmaligen Wind durch die richtige
Flügelstellung den gröſsten oder vorteilhaftesten Hebedruck
abzugewinnen. Vielleicht gehört hierzu weniger Geschick-
lichkeit als auf hohem Turmseil ein Gericht Eierkuchen zu
backen, wenigstens wäre die Geschicklichkeit hier auch nicht
schlechter angewandt; und auch viel gefährlicher dürfte das
Unternehmen nicht sein, mit kleineren Flächen anfangend und
allmählich zu groſsen übergehend, das Segeln im Winde zu
üben.

Unsere Künstler auf dem Seil sind übrigens zuweilen
nicht ganz unerfahren in den Vorteilen, die ihnen der Luft-
widerstand bieten kann. Vor einigen Jahren sah ich in einem
Vergnügungslokal am Moritzplatz in Berlin eine junge Dame
auf einem Drahtseil spazieren, welche sich mit einem riesigen
Fächer beständig Kühlung zuwehte. Auf den Unbefangenen
machte es den Eindruck, als sei die Produktion durch die
Handhabung des Fächers erst recht schwierig, worauf auch
der Applaus hindeutete. Demjenigen aber, welcher sich mit
der Ausnutzung des Luftwiderstandes beschäftigt hat, konnte
es nicht entgehen, daſs jene Dame den graziös geführten

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[162/0178] Kein Wunder ist es, daſs die Vögel auch die feinsten Unterschiede in der Luftbewegung fühlen, denn ihre ganze Oberfläche ist für dieses Gefühl in Thätigkeit. Ihre lang und breit ausgestreckten Flügel bilden einen empfindlichen Fühl- hebel, und namentlich in den Häuten, aus denen die Schwung- federn hervorwachsen, wird das feinste Gefühl sich konzen- trieren, wie in unseren Fingerspitzen. Während also beim eigentlichen Segeln die Geschicklich- keit die Hauptrolle spielt, ist die Flugarbeit selbst theoretisch gleich Null. Wenn der Mensch jemals dahin gelangen sollte, die herr- lichen Segelbewegungen der Vögel nachzuahmen, so braucht er dazu also weder Dampfmaschinen noch Elektromotore, son- dern nur eine leichte, richtig geformte und genügend beweg- liche Flugfläche, sowie vor allem die gehörige Übung in der Handhabung. Auch dem Menschen muſs es in das Gefühl übergegangen sein, dem jedesmaligen Wind durch die richtige Flügelstellung den gröſsten oder vorteilhaftesten Hebedruck abzugewinnen. Vielleicht gehört hierzu weniger Geschick- lichkeit als auf hohem Turmseil ein Gericht Eierkuchen zu backen, wenigstens wäre die Geschicklichkeit hier auch nicht schlechter angewandt; und auch viel gefährlicher dürfte das Unternehmen nicht sein, mit kleineren Flächen anfangend und allmählich zu groſsen übergehend, das Segeln im Winde zu üben. Unsere Künstler auf dem Seil sind übrigens zuweilen nicht ganz unerfahren in den Vorteilen, die ihnen der Luft- widerstand bieten kann. Vor einigen Jahren sah ich in einem Vergnügungslokal am Moritzplatz in Berlin eine junge Dame auf einem Drahtseil spazieren, welche sich mit einem riesigen Fächer beständig Kühlung zuwehte. Auf den Unbefangenen machte es den Eindruck, als sei die Produktion durch die Handhabung des Fächers erst recht schwierig, worauf auch der Applaus hindeutete. Demjenigen aber, welcher sich mit der Ausnutzung des Luftwiderstandes beschäftigt hat, konnte es nicht entgehen, daſs jene Dame den graziös geführten

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Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/178>, abgerufen am 25.11.2024.