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Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889.

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scheint, welcher als einer der grössten Vögel unseres Erdteiles
auch alle Künste des Fliegens versteht, ein Vogel, den wir in
seinem Naturzustande, in der vollen Freiheit seiner Bewegungen
beobachten können, wie keinen anderen. Ich meine den Storch,
der alljährlich in unsere Ebenen aus seiner, tief im Innern
Afrikas gelegenen, zweiten Heimat zurückkehrt, der auf unse-
ren Häusern geboren wird, auf unseren Dächern seine Jugend-
tage verlebt und über unseren Häuptern von seinen Eltern im
Fliegen unterrichtet wird.

Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der
Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehn-
sucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser
Kunst zu dienen; fast hört man's, als rief er die Mahnung
uns zu:

"O, sieh', welche Wonne hier oben uns blüht,
Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith,
Und unter uns dehnt sich gebreitet
Die herrliche, sonnenbeschienene Welt,
Umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt,
An dem nur Dein Blick uns begleitet!
Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind
Die breiten, gewölbten Fittige sind;
Der Flug macht uns keine Beschwerde;
Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh'.
O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du?
Wann löst sich Dein Fuss von der Erde?
Und senkt sich der Abend, und ruhet die Luft,
Dann steigen wir nieder im goldigen Duft,
Verlassen die einsame Höhe.
Dann trägt uns der Flügelschlag ruhig und leicht
Dem Dorfe zu, ehe die Sonne entweicht;
Dann suchen wir auf Deine Nähe.
So siehst Du im niedrigen Fluge uns ziehn
Im Abendrot über die Gärten dahin.

scheint, welcher als einer der gröſsten Vögel unseres Erdteiles
auch alle Künste des Fliegens versteht, ein Vogel, den wir in
seinem Naturzustande, in der vollen Freiheit seiner Bewegungen
beobachten können, wie keinen anderen. Ich meine den Storch,
der alljährlich in unsere Ebenen aus seiner, tief im Innern
Afrikas gelegenen, zweiten Heimat zurückkehrt, der auf unse-
ren Häusern geboren wird, auf unseren Dächern seine Jugend-
tage verlebt und über unseren Häuptern von seinen Eltern im
Fliegen unterrichtet wird.

Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der
Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehn-
sucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser
Kunst zu dienen; fast hört man’s, als rief er die Mahnung
uns zu:

„O, sieh’, welche Wonne hier oben uns blüht,
Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith,
Und unter uns dehnt sich gebreitet
Die herrliche, sonnenbeschienene Welt,
Umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt,
An dem nur Dein Blick uns begleitet!
Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind
Die breiten, gewölbten Fittige sind;
Der Flug macht uns keine Beschwerde;
Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh’.
O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du?
Wann löst sich Dein Fuſs von der Erde?
Und senkt sich der Abend, und ruhet die Luft,
Dann steigen wir nieder im goldigen Duft,
Verlassen die einsame Höhe.
Dann trägt uns der Flügelschlag ruhig und leicht
Dem Dorfe zu, ehe die Sonne entweicht;
Dann suchen wir auf Deine Nähe.
So siehst Du im niedrigen Fluge uns ziehn
Im Abendrot über die Gärten dahin.
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[148/0164] scheint, welcher als einer der gröſsten Vögel unseres Erdteiles auch alle Künste des Fliegens versteht, ein Vogel, den wir in seinem Naturzustande, in der vollen Freiheit seiner Bewegungen beobachten können, wie keinen anderen. Ich meine den Storch, der alljährlich in unsere Ebenen aus seiner, tief im Innern Afrikas gelegenen, zweiten Heimat zurückkehrt, der auf unse- ren Häusern geboren wird, auf unseren Dächern seine Jugend- tage verlebt und über unseren Häuptern von seinen Eltern im Fliegen unterrichtet wird. Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehn- sucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen; fast hört man’s, als rief er die Mahnung uns zu: „O, sieh’, welche Wonne hier oben uns blüht, Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith, Und unter uns dehnt sich gebreitet Die herrliche, sonnenbeschienene Welt, Umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt, An dem nur Dein Blick uns begleitet! Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind Die breiten, gewölbten Fittige sind; Der Flug macht uns keine Beschwerde; Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh’. O, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch Du? Wann löst sich Dein Fuſs von der Erde? Und senkt sich der Abend, und ruhet die Luft, Dann steigen wir nieder im goldigen Duft, Verlassen die einsame Höhe. Dann trägt uns der Flügelschlag ruhig und leicht Dem Dorfe zu, ehe die Sonne entweicht; Dann suchen wir auf Deine Nähe. So siehst Du im niedrigen Fluge uns ziehn Im Abendrot über die Gärten dahin.

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Zitationshilfe: Lilienthal, Otto: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst. Ein Beitrag zur Systematik der Flugtechnik. Berlin, 1889, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lilienthal_vogelflug_1889/164>, abgerufen am 02.05.2024.