Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

Bild:
<< vorherige Seite

von Anapa und Poti am Schwarzen Meer und des Paschalik
Achalzik; 700,000 "Börsen" (etwa 120 Millionen Franken) Kriegs-
entschädigung, deren Zahlung zu garantiren durch Silistria und die
Donau-Fürstenthümer als Faustpfand in der Hand der Russen. Jn-
demnität von ungefähr 15 Millionen Franken an die russischen Kauf-
leute, für Verluste, zahlbar in 3 Terminen, nach deren jedem die
russische Armee sich zurückziehen würde, erst an den Fuß des Balkans,
dann nördlich von dieser Bergkette, endlich über die Donau.

Die Pforte protestirte gegen diese Bedingungen, die so sehr im
Widerspruch waren mit den Mäßigkeitsversicherungen des Czars. Der
neue preußische Gesandte -- Roher -- (Müffling war am 5. Sept.
verduftet, nachdem er sein Henkerwerk vollbracht, er der "Freund der
Pforte" und Friedensengel), zusammen mit dem von Müffling ein-
geseiften General Guilleminot und Sir Robert Gordon -- unter-
stützten die Reklamationen der Pforte,
denn diese Frech-
heit war gegen die Verabredung, ging sogar "dem im Siegerkranz"
zu weit. Diebitsch wußte, daß er militärisch in der Patsche saß,
machte Scheinconcessionen: der Artikel über den Betrag der Kriegs-
indemnität
sollte zurückgezogen werden im öffentlichen Friedens-
vertrage; die erste Quote der Schadenersatzzahlung an den russischen
Handel wurde verringert, denn, wie die türkischen Gesandten
sagten:
"Der Unwissendste wüßte, daß die Pforte nicht zahlen könnte."
Der Friede wurde endlich geschlossen am 5. September.

Große Sensation in Europa, große Entrüstung in England;
Wellington schäumte; selbst Aberdeen wies in einer Depesche die Gefahr
nach, die hinter jeder einzelnen Friedensklausel lauerte, und versuchte eine
allgemeine Allianz hervorzurufen, wodurch alle Großmächte (Ruß-
land eingeschlossen) den Frieden im Orient garantiren wür-
den.
Oestreich war willig; aber Preußen vereitelte das Pro-
jekt,
rettete Rußland von den Gefahren, womit ein europäischer Congreß
es bedrohte. (Frankreich, wo Carl X. den Staatsstreich vorbereitete,
bahnte ein geheimes Einverständniß mit Rußland an; es wurde
auch ein Geheimvertrag abgeschlossen, wonach Frankreich die Rhein-
provinzen erhalten
sollte.)

Unter diesen Umständen hatte Nesselrode sich nicht zu geniren; er
schrieb eine unverschämte und höhnische Depesche an die englischen
Minister, d. h. eine Depesche, gerichtet an Graf Lieven (den russischen
Gesandten) in London.

Dies that Preußen damals und hat es jetzt auf größerer Stufen-
leiter wiederholt. Schöne Hohenstaufen -- diese Hohenzollern! Bismarck
hatte die Staatsweisheit leicht in der österreichischen und französischen
Affaire; gegen Oestreich hatte er den Schutz Bonapartes und die Jta-

von Anapa und Poti am Schwarzen Meer und des Paſchalik
Achalzik; 700,000 „Börſen‟ (etwa 120 Millionen Franken) Kriegs-
entſchädigung, deren Zahlung zu garantiren durch Siliſtria und die
Donau-Fürſtenthümer als Fauſtpfand in der Hand der Ruſſen. Jn-
demnität von ungefähr 15 Millionen Franken an die ruſſiſchen Kauf-
leute, für Verluſte, zahlbar in 3 Terminen, nach deren jedem die
ruſſiſche Armee ſich zurückziehen würde, erſt an den Fuß des Balkans,
dann nördlich von dieſer Bergkette, endlich über die Donau.

Die Pforte proteſtirte gegen dieſe Bedingungen, die ſo ſehr im
Widerſpruch waren mit den Mäßigkeitsverſicherungen des Czars. Der
neue preußiſche Geſandte — Roher — (Müffling war am 5. Sept.
verduftet, nachdem er ſein Henkerwerk vollbracht, er der „Freund der
Pforte‟ und Friedensengel), zuſammen mit dem von Müffling ein-
geſeiften General Guilleminot und Sir Robert Gordon — unter-
ſtützten die Reklamationen der Pforte,
denn dieſe Frech-
heit war gegen die Verabredung, ging ſogar „dem im Siegerkranz‟
zu weit. Diebitſch wußte, daß er militäriſch in der Patſche ſaß,
machte Scheinconceſſionen: der Artikel über den Betrag der Kriegs-
indemnität
ſollte zurückgezogen werden im öffentlichen Friedens-
vertrage; die erſte Quote der Schadenerſatzzahlung an den ruſſiſchen
Handel wurde verringert, denn, wie die türkiſchen Geſandten
ſagten:
„Der Unwiſſendſte wüßte, daß die Pforte nicht zahlen könnte.‟
Der Friede wurde endlich geſchloſſen am 5. September.

Große Senſation in Europa, große Entrüſtung in England;
Wellington ſchäumte; ſelbſt Aberdeen wies in einer Depeſche die Gefahr
nach, die hinter jeder einzelnen Friedensklauſel lauerte, und verſuchte eine
allgemeine Allianz hervorzurufen, wodurch alle Großmächte (Ruß-
land eingeſchloſſen) den Frieden im Orient garantiren wür-
den.
Oeſtreich war willig; aber Preußen vereitelte das Pro-
jekt,
rettete Rußland von den Gefahren, womit ein europäiſcher Congreß
es bedrohte. (Frankreich, wo Carl X. den Staatsſtreich vorbereitete,
bahnte ein geheimes Einverſtändniß mit Rußland an; es wurde
auch ein Geheimvertrag abgeſchloſſen, wonach Frankreich die Rhein-
provinzen erhalten
ſollte.)

Unter dieſen Umſtänden hatte Neſſelrode ſich nicht zu geniren; er
ſchrieb eine unverſchämte und höhniſche Depeſche an die engliſchen
Miniſter, d. h. eine Depeſche, gerichtet an Graf Lieven (den ruſſiſchen
Geſandten) in London.

Dies that Preußen damals und hat es jetzt auf größerer Stufen-
leiter wiederholt. Schöne Hohenſtaufen — dieſe Hohenzollern! Bismarck
hatte die Staatsweisheit leicht in der öſterreichiſchen und franzöſiſchen
Affaire; gegen Oeſtreich hatte er den Schutz Bonapartes und die Jta-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter">
        <p><pb facs="#f0066" n="62"/>
von Anapa und Poti am Schwarzen Meer und des Pa&#x017F;chalik<lb/>
Achalzik; 700,000 &#x201E;Bör&#x017F;en&#x201F; (etwa 120 Millionen Franken) Kriegs-<lb/>
ent&#x017F;chädigung, deren Zahlung zu garantiren durch Sili&#x017F;tria und die<lb/>
Donau-Für&#x017F;tenthümer als Fau&#x017F;tpfand in der Hand der Ru&#x017F;&#x017F;en. Jn-<lb/>
demnität von ungefähr 15 Millionen Franken an die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Kauf-<lb/>
leute, für Verlu&#x017F;te, zahlbar in 3 Terminen, nach deren jedem die<lb/>
ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;che Armee &#x017F;ich zurückziehen würde, er&#x017F;t an den Fuß des Balkans,<lb/>
dann nördlich von die&#x017F;er Bergkette, endlich über die Donau.</p><lb/>
        <p>Die Pforte prote&#x017F;tirte gegen die&#x017F;e Bedingungen, die &#x017F;o &#x017F;ehr im<lb/>
Wider&#x017F;pruch waren mit den Mäßigkeitsver&#x017F;icherungen des Czars. Der<lb/>
neue preußi&#x017F;che Ge&#x017F;andte &#x2014; Roher &#x2014; (Müffling war am 5. Sept.<lb/>
verduftet, nachdem er &#x017F;ein Henkerwerk vollbracht, er der &#x201E;Freund der<lb/>
Pforte&#x201F; und Friedensengel), zu&#x017F;ammen mit dem von Müffling ein-<lb/>
ge&#x017F;eiften General Guilleminot und Sir Robert Gordon &#x2014; <hi rendition="#g">unter-<lb/>
&#x017F;tützten die Reklamationen der Pforte,</hi> denn die&#x017F;e Frech-<lb/>
heit war gegen die Verabredung, ging <hi rendition="#g">&#x017F;ogar</hi> &#x201E;dem im Siegerkranz&#x201F;<lb/>
zu weit. Diebit&#x017F;ch wußte, daß er militäri&#x017F;ch in der Pat&#x017F;che &#x017F;aß,<lb/>
machte Scheinconce&#x017F;&#x017F;ionen: der Artikel über den <hi rendition="#g">Betrag der Kriegs-<lb/>
indemnität</hi> &#x017F;ollte zurückgezogen werden im öffentlichen Friedens-<lb/>
vertrage; die er&#x017F;te Quote der Schadener&#x017F;atzzahlung an den ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Handel wurde verringert, denn, <hi rendition="#g">wie die türki&#x017F;chen Ge&#x017F;andten<lb/>
&#x017F;agten:</hi> &#x201E;Der Unwi&#x017F;&#x017F;end&#x017F;te wüßte, daß die Pforte nicht zahlen könnte.&#x201F;<lb/>
Der Friede wurde endlich ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en am 5. September.</p><lb/>
        <p>Große Sen&#x017F;ation in Europa, große Entrü&#x017F;tung in England;<lb/>
Wellington &#x017F;chäumte; &#x017F;elb&#x017F;t Aberdeen wies in einer Depe&#x017F;che die Gefahr<lb/>
nach, die hinter jeder einzelnen Friedensklau&#x017F;el lauerte, und ver&#x017F;uchte eine<lb/>
allgemeine Allianz hervorzurufen, wodurch <hi rendition="#g">alle Großmächte</hi> (Ruß-<lb/>
land einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en) <hi rendition="#g">den Frieden im Orient garantiren wür-<lb/>
den.</hi> Oe&#x017F;treich war willig; aber <hi rendition="#g">Preußen vereitelte das Pro-<lb/>
jekt,</hi> rettete Rußland von den Gefahren, womit ein europäi&#x017F;cher Congreß<lb/>
es bedrohte. (<hi rendition="#g">Frankreich,</hi> wo Carl <hi rendition="#aq">X.</hi> den Staats&#x017F;treich vorbereitete,<lb/>
bahnte ein <hi rendition="#g">geheimes</hi> Einver&#x017F;tändniß mit <hi rendition="#g">Rußland</hi> an; es wurde<lb/>
auch ein Geheimvertrag abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, wonach Frankreich die <hi rendition="#g">Rhein-<lb/>
provinzen erhalten</hi> &#x017F;ollte.)</p><lb/>
        <p>Unter die&#x017F;en Um&#x017F;tänden hatte Ne&#x017F;&#x017F;elrode &#x017F;ich nicht zu geniren; er<lb/>
&#x017F;chrieb eine unver&#x017F;chämte und höhni&#x017F;che Depe&#x017F;che an die engli&#x017F;chen<lb/>
Mini&#x017F;ter, d. h. eine Depe&#x017F;che, gerichtet an Graf Lieven (den ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Ge&#x017F;andten) in London.</p><lb/>
        <p>Dies that Preußen damals und hat es jetzt auf größerer Stufen-<lb/>
leiter wiederholt. Schöne Hohen&#x017F;taufen &#x2014; die&#x017F;e Hohenzollern! Bismarck<lb/>
hatte die Staatsweisheit leicht in der ö&#x017F;terreichi&#x017F;chen und franzö&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Affaire; gegen Oe&#x017F;treich hatte er den Schutz Bonapartes und die Jta-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0066] von Anapa und Poti am Schwarzen Meer und des Paſchalik Achalzik; 700,000 „Börſen‟ (etwa 120 Millionen Franken) Kriegs- entſchädigung, deren Zahlung zu garantiren durch Siliſtria und die Donau-Fürſtenthümer als Fauſtpfand in der Hand der Ruſſen. Jn- demnität von ungefähr 15 Millionen Franken an die ruſſiſchen Kauf- leute, für Verluſte, zahlbar in 3 Terminen, nach deren jedem die ruſſiſche Armee ſich zurückziehen würde, erſt an den Fuß des Balkans, dann nördlich von dieſer Bergkette, endlich über die Donau. Die Pforte proteſtirte gegen dieſe Bedingungen, die ſo ſehr im Widerſpruch waren mit den Mäßigkeitsverſicherungen des Czars. Der neue preußiſche Geſandte — Roher — (Müffling war am 5. Sept. verduftet, nachdem er ſein Henkerwerk vollbracht, er der „Freund der Pforte‟ und Friedensengel), zuſammen mit dem von Müffling ein- geſeiften General Guilleminot und Sir Robert Gordon — unter- ſtützten die Reklamationen der Pforte, denn dieſe Frech- heit war gegen die Verabredung, ging ſogar „dem im Siegerkranz‟ zu weit. Diebitſch wußte, daß er militäriſch in der Patſche ſaß, machte Scheinconceſſionen: der Artikel über den Betrag der Kriegs- indemnität ſollte zurückgezogen werden im öffentlichen Friedens- vertrage; die erſte Quote der Schadenerſatzzahlung an den ruſſiſchen Handel wurde verringert, denn, wie die türkiſchen Geſandten ſagten: „Der Unwiſſendſte wüßte, daß die Pforte nicht zahlen könnte.‟ Der Friede wurde endlich geſchloſſen am 5. September. Große Senſation in Europa, große Entrüſtung in England; Wellington ſchäumte; ſelbſt Aberdeen wies in einer Depeſche die Gefahr nach, die hinter jeder einzelnen Friedensklauſel lauerte, und verſuchte eine allgemeine Allianz hervorzurufen, wodurch alle Großmächte (Ruß- land eingeſchloſſen) den Frieden im Orient garantiren wür- den. Oeſtreich war willig; aber Preußen vereitelte das Pro- jekt, rettete Rußland von den Gefahren, womit ein europäiſcher Congreß es bedrohte. (Frankreich, wo Carl X. den Staatsſtreich vorbereitete, bahnte ein geheimes Einverſtändniß mit Rußland an; es wurde auch ein Geheimvertrag abgeſchloſſen, wonach Frankreich die Rhein- provinzen erhalten ſollte.) Unter dieſen Umſtänden hatte Neſſelrode ſich nicht zu geniren; er ſchrieb eine unverſchämte und höhniſche Depeſche an die engliſchen Miniſter, d. h. eine Depeſche, gerichtet an Graf Lieven (den ruſſiſchen Geſandten) in London. Dies that Preußen damals und hat es jetzt auf größerer Stufen- leiter wiederholt. Schöne Hohenſtaufen — dieſe Hohenzollern! Bismarck hatte die Staatsweisheit leicht in der öſterreichiſchen und franzöſiſchen Affaire; gegen Oeſtreich hatte er den Schutz Bonapartes und die Jta-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/66
Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/66>, abgerufen am 23.11.2024.