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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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Und gleich allen Erobererreichen, kann Rußland nicht Halt machen,
es wird durch die Logik seiner Existenz vorwärts getrieben, bis
es entweder nach Jnnen zerfällt oder von Außen zertrümmert wird.

Doch kann denn überhaupt dieses Rußland, das sich militärisch so
schwach erwiesen hat, uns ernstlich bedrohen? fragt wohl der Eine oder
Andere. Die Antwort ist leicht: Rußlands Stärke liegt nicht in seiner
Armee, nicht in seinen materiellen Machtmitteln, die zu der räumlichen
Größe des Reichs in einem fast lächerlichen Mißverhältniß stehen, son-
dern in der Thatsache, daß Rußland als Champion des Despotismus,
der Völkerunterdrückung par excellence alle übrigen europäischen Re-
gierungen mehr oder weniger zu Mitschuldigen, die herrschenden Klassen
des übrigen Europa zu Bundesgenossen und Werkzeugen hat. Das
ist die Gefahr. Ueber das Rußland in Petersburg könnten wir
lachen, wäre nicht das Rußland in Berlin, Wien, London, Paris.

Da ich Paris genannt habe, sei hier erwähnt, daß die französische
Regierung, wie neuerdings offenbar geworden ist, seit Beginn der
orientalischen Krise bis zur Bildung des neuesten Ministeriums sich die
größte Mühe gegeben hat, um Rußland zu einer Allianz gegen
Deutschland zu bewegen.
Aus dieser Thatsache erklärt sich die
sonst unverständliche Freude Bismarcks über den Sturz des Mac
Mahon'schen Schürzen-Ministeriums. Dem Urheber des Dreikaiser-
bündnisses -- Pardon! des Dreikaiser verhältnisses muß es er-
wünscht sein, den Schraubstock der russisch-französischen Allianz los zu
werden. Allerdings dürfte Fürst Bismarck sich verrechnet haben, wenn
er das aus der Linken genommene Ministerium einer Allianz mit Ruß-
land für unfähig hält. Herr Gambetta ist zum Mindesten so russisch,
wie Mac Mahon und Thiers. Und sollte die französische Bourgeois-
republik gelegentlich gegen Rußland sich wenden, so geschähe es nur,
weil sie auf diese Weise eher zur "Revanche", d. h. zur Wiedereroberung
von Elsaß-Lothringen zu gelangen hofft.

Jn welchem Grade der Abhängigkeit von Rußland nun aber ge-
rade unser großmächtiges Deutsches Reich sich befindet, das verrieth --
von der famosen "Orientrede" zu geschweigen -- Fürst Bismarck selbst
in der Reichstagssitzung vom 25. Februar dieses Jahres. Es handelte
sich, bei der Etatsberathung, um die Position: "Botschaft zu Peters-
burg." Abgeordneter Frühauf benutzte den Anlaß, um die russische
Grenzsperre und die "Scheerereien" an der russischen Grenze zur Sprache
zu bringen und den Reichskanzler zu fragen, ob er nicht von der rus-

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Und gleich allen Erobererreichen, kann Rußland nicht Halt machen,
es wird durch die Logik ſeiner Exiſtenz vorwärts getrieben, bis
es entweder nach Jnnen zerfällt oder von Außen zertrümmert wird.

Doch kann denn überhaupt dieſes Rußland, das ſich militäriſch ſo
ſchwach erwieſen hat, uns ernſtlich bedrohen? fragt wohl der Eine oder
Andere. Die Antwort iſt leicht: Rußlands Stärke liegt nicht in ſeiner
Armee, nicht in ſeinen materiellen Machtmitteln, die zu der räumlichen
Größe des Reichs in einem faſt lächerlichen Mißverhältniß ſtehen, ſon-
dern in der Thatſache, daß Rußland als Champion des Despotismus,
der Völkerunterdrückung par excellence alle übrigen europäiſchen Re-
gierungen mehr oder weniger zu Mitſchuldigen, die herrſchenden Klaſſen
des übrigen Europa zu Bundesgenoſſen und Werkzeugen hat. Das
iſt die Gefahr. Ueber das Rußland in Petersburg könnten wir
lachen, wäre nicht das Rußland in Berlin, Wien, London, Paris.

Da ich Paris genannt habe, ſei hier erwähnt, daß die franzöſiſche
Regierung, wie neuerdings offenbar geworden iſt, ſeit Beginn der
orientaliſchen Kriſe bis zur Bildung des neueſten Miniſteriums ſich die
größte Mühe gegeben hat, um Rußland zu einer Allianz gegen
Deutſchland zu bewegen.
Aus dieſer Thatſache erklärt ſich die
ſonſt unverſtändliche Freude Bismarcks über den Sturz des Mac
Mahon’ſchen Schürzen-Miniſteriums. Dem Urheber des Dreikaiſer-
bündniſſes — Pardon! des Dreikaiſer verhältniſſes muß es er-
wünſcht ſein, den Schraubſtock der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz los zu
werden. Allerdings dürfte Fürſt Bismarck ſich verrechnet haben, wenn
er das aus der Linken genommene Miniſterium einer Allianz mit Ruß-
land für unfähig hält. Herr Gambetta iſt zum Mindeſten ſo ruſſiſch,
wie Mac Mahon und Thiers. Und ſollte die franzöſiſche Bourgeois-
republik gelegentlich gegen Rußland ſich wenden, ſo geſchähe es nur,
weil ſie auf dieſe Weiſe eher zur „Revanche‟, d. h. zur Wiedereroberung
von Elſaß-Lothringen zu gelangen hofft.

Jn welchem Grade der Abhängigkeit von Rußland nun aber ge-
rade unſer großmächtiges Deutſches Reich ſich befindet, das verrieth —
von der famoſen „Orientrede‟ zu geſchweigen — Fürſt Bismarck ſelbſt
in der Reichstagsſitzung vom 25. Februar dieſes Jahres. Es handelte
ſich, bei der Etatsberathung, um die Poſition: „Botſchaft zu Peters-
burg.‟ Abgeordneter Frühauf benutzte den Anlaß, um die ruſſiſche
Grenzſperre und die „Scheerereien‟ an der ruſſiſchen Grenze zur Sprache
zu bringen und den Reichskanzler zu fragen, ob er nicht von der ruſ-

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[50/0054] Und gleich allen Erobererreichen, kann Rußland nicht Halt machen, es wird durch die Logik ſeiner Exiſtenz vorwärts getrieben, bis es entweder nach Jnnen zerfällt oder von Außen zertrümmert wird. Doch kann denn überhaupt dieſes Rußland, das ſich militäriſch ſo ſchwach erwieſen hat, uns ernſtlich bedrohen? fragt wohl der Eine oder Andere. Die Antwort iſt leicht: Rußlands Stärke liegt nicht in ſeiner Armee, nicht in ſeinen materiellen Machtmitteln, die zu der räumlichen Größe des Reichs in einem faſt lächerlichen Mißverhältniß ſtehen, ſon- dern in der Thatſache, daß Rußland als Champion des Despotismus, der Völkerunterdrückung par excellence alle übrigen europäiſchen Re- gierungen mehr oder weniger zu Mitſchuldigen, die herrſchenden Klaſſen des übrigen Europa zu Bundesgenoſſen und Werkzeugen hat. Das iſt die Gefahr. Ueber das Rußland in Petersburg könnten wir lachen, wäre nicht das Rußland in Berlin, Wien, London, Paris. Da ich Paris genannt habe, ſei hier erwähnt, daß die franzöſiſche Regierung, wie neuerdings offenbar geworden iſt, ſeit Beginn der orientaliſchen Kriſe bis zur Bildung des neueſten Miniſteriums ſich die größte Mühe gegeben hat, um Rußland zu einer Allianz gegen Deutſchland zu bewegen. Aus dieſer Thatſache erklärt ſich die ſonſt unverſtändliche Freude Bismarcks über den Sturz des Mac Mahon’ſchen Schürzen-Miniſteriums. Dem Urheber des Dreikaiſer- bündniſſes — Pardon! des Dreikaiſer verhältniſſes muß es er- wünſcht ſein, den Schraubſtock der ruſſiſch-franzöſiſchen Allianz los zu werden. Allerdings dürfte Fürſt Bismarck ſich verrechnet haben, wenn er das aus der Linken genommene Miniſterium einer Allianz mit Ruß- land für unfähig hält. Herr Gambetta iſt zum Mindeſten ſo ruſſiſch, wie Mac Mahon und Thiers. Und ſollte die franzöſiſche Bourgeois- republik gelegentlich gegen Rußland ſich wenden, ſo geſchähe es nur, weil ſie auf dieſe Weiſe eher zur „Revanche‟, d. h. zur Wiedereroberung von Elſaß-Lothringen zu gelangen hofft. Jn welchem Grade der Abhängigkeit von Rußland nun aber ge- rade unſer großmächtiges Deutſches Reich ſich befindet, das verrieth — von der famoſen „Orientrede‟ zu geſchweigen — Fürſt Bismarck ſelbſt in der Reichstagsſitzung vom 25. Februar dieſes Jahres. Es handelte ſich, bei der Etatsberathung, um die Poſition: „Botſchaft zu Peters- burg.‟ Abgeordneter Frühauf benutzte den Anlaß, um die ruſſiſche Grenzſperre und die „Scheerereien‟ an der ruſſiſchen Grenze zur Sprache zu bringen und den Reichskanzler zu fragen, ob er nicht von der ruſ-

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/54>, abgerufen am 04.05.2024.