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Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.

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und die türkische Verfassung war die russische Diplomatie vollkommen
matt gesetzt. Es blieb den Gortschakoffs und Consorten blos die Wahl
zwischen schimpflichem Rückzug oder dem Versuch, den durch ihre Un-
geschicklichkeit unentwirrbar verknäuelten Knoten mit dem Schwert zu
zerhauen. Das Schwert war von jeher die ultima ratio, der letzte
Grund der sich bankerut fühlenden Brutalität. Kein Zweifel, die Russen
haben mehr Soldaten als die Türken, dafür sind die türkischen Soldaten
an sich den russischen überlegen, und bei den ungeheuren Schwierigkeiten,
die sich dem Vormarsch in das Herz der Türkei entgegenstellen, wird
ein großer Theil der russischen Angriffstruppen unterwegs aufgerieben
oder festgehalten werden. David Urquhart, vielleicht der beste Kenner
der Menschen und Dinge in Rußland und der Türkei, speziell der
orientalischen Frage, schrieb vor dem Krimkrieg: Let Turkey alone
and she is sure to win!
Man überlasse die Türkei sich selbst, falle
ihr nicht in den erhobenen Arm, umwinde sie nicht mit der seidenen
Schnur der Diplomatie, und sie wird mit den Russen fertig.

"Doch die Unzufriedenheit unter den Christen in der Türkei, die
Schilderhebungen in Bosnien, der Bulgarei u. s. w.!" Gut. Das
ist allerdings ein Faktor, der nicht übersehen werden darf; aber auch
nicht überschätzt. Die Unzufriedenheit der türkischen Christen ist zu
99/100 eine russische Lüge, und das übrige Hundertstel ist zu 99/100
russisches Fabrikat. Daß die Aufstände, welche vor 11/2 Jahren in
türkischen Grenzgebieten ausbrachen, von Petersburg aus angestiftet
waren, ist aktenmäßig festgestellt. Der Neid auf russische Freiheit
wird die türkischen Christen gewiß nicht zur Jnsurrektion treiben, sind
doch die Christen in der heidnischen Türkei tausendmal freier als die
Christen in dem christlichen Rußland -- und zwar als die Christen
der Staats kirche, denn die andern sind nicht blos unterdrückt und
verfolgt, sie sind vogelfrei.

Und das führt uns zu Polen.

Polen das zerfleischte, systematisch wehrlos gemachte Polen, das, im
Winter 1862 auf 63 durch die Verzweiflung in den Aufstand gepeitscht,
der gesammten russischen Kriegsmacht über ein Jahr lang die Spitze bot,
und nur durch die "guten Dienste" des unter Bismarck's Führung
seine Bestimmung erfüllenden Preußen niedergeworfen werden konnte --
ist Polen todt? Und die Völker des Kaukasus, voran die helden-
müthigen Tscherkessen, die fast ein Jahrhundert lang die russischen
Armeen siegreich bekämpften, bis sie dem Verrathe zum Opfer
fielen?

Genug -- das Spiel der "unterdrückten Nationalitäten" kann auch
von Leuten die nicht an der Newa wohnen, gespielt werden, und von
allen Ländern der Erde ist es das mit der Blutschuld so manchen

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und die türkiſche Verfaſſung war die ruſſiſche Diplomatie vollkommen
matt geſetzt. Es blieb den Gortſchakoffs und Conſorten blos die Wahl
zwiſchen ſchimpflichem Rückzug oder dem Verſuch, den durch ihre Un-
geſchicklichkeit unentwirrbar verknäuelten Knoten mit dem Schwert zu
zerhauen. Das Schwert war von jeher die ultima ratio, der letzte
Grund der ſich bankerut fühlenden Brutalität. Kein Zweifel, die Ruſſen
haben mehr Soldaten als die Türken, dafür ſind die türkiſchen Soldaten
an ſich den ruſſiſchen überlegen, und bei den ungeheuren Schwierigkeiten,
die ſich dem Vormarſch in das Herz der Türkei entgegenſtellen, wird
ein großer Theil der ruſſiſchen Angriffstruppen unterwegs aufgerieben
oder feſtgehalten werden. David Urquhart, vielleicht der beſte Kenner
der Menſchen und Dinge in Rußland und der Türkei, ſpeziell der
orientaliſchen Frage, ſchrieb vor dem Krimkrieg: Let Turkey alone
and she is sure to win!
Man überlaſſe die Türkei ſich ſelbſt, falle
ihr nicht in den erhobenen Arm, umwinde ſie nicht mit der ſeidenen
Schnur der Diplomatie, und ſie wird mit den Ruſſen fertig.

„Doch die Unzufriedenheit unter den Chriſten in der Türkei, die
Schilderhebungen in Bosnien, der Bulgarei u. ſ. w.!‟ Gut. Das
iſt allerdings ein Faktor, der nicht überſehen werden darf; aber auch
nicht überſchätzt. Die Unzufriedenheit der türkiſchen Chriſten iſt zu
99/100 eine ruſſiſche Lüge, und das übrige Hundertſtel iſt zu 99/100
ruſſiſches Fabrikat. Daß die Aufſtände, welche vor 1½ Jahren in
türkiſchen Grenzgebieten ausbrachen, von Petersburg aus angeſtiftet
waren, iſt aktenmäßig feſtgeſtellt. Der Neid auf ruſſiſche Freiheit
wird die türkiſchen Chriſten gewiß nicht zur Jnſurrektion treiben, ſind
doch die Chriſten in der heidniſchen Türkei tauſendmal freier als die
Chriſten in dem chriſtlichen Rußland — und zwar als die Chriſten
der Staats kirche, denn die andern ſind nicht blos unterdrückt und
verfolgt, ſie ſind vogelfrei.

Und das führt uns zu Polen.

Polen das zerfleiſchte, ſyſtematiſch wehrlos gemachte Polen, das, im
Winter 1862 auf 63 durch die Verzweiflung in den Aufſtand gepeitſcht,
der geſammten ruſſiſchen Kriegsmacht über ein Jahr lang die Spitze bot,
und nur durch die „guten Dienſte‟ des unter Bismarck’s Führung
ſeine Beſtimmung erfüllenden Preußen niedergeworfen werden konnte —
iſt Polen todt? Und die Völker des Kaukaſus, voran die helden-
müthigen Tſcherkeſſen, die faſt ein Jahrhundert lang die ruſſiſchen
Armeen ſiegreich bekämpften, bis ſie dem Verrathe zum Opfer
fielen?

Genug — das Spiel der „unterdrückten Nationalitäten‟ kann auch
von Leuten die nicht an der Newa wohnen, geſpielt werden, und von
allen Ländern der Erde iſt es das mit der Blutſchuld ſo manchen

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Zitationshilfe: Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebknecht_frage_1878/21>, abgerufen am 21.11.2024.