Liebknecht, Wilhelm: Zur orientalischen Frage oder Soll Europa kosakisch werden? 2. Aufl. Leipzig, 1878.hatte ihm Europa zu Füßen gelegt und sich selbst. Rußland zerriß Schon regt sich's bei den "Neutralen". Nach Oestreich sind Funken Werden die Russen gewinnen, oder die Türken? Wir haben keine Lust, Wahrscheinlichkeitspolitik zu treiben. Das hatte ihm Europa zu Füßen gelegt und ſich ſelbſt. Rußland zerriß Schon regt ſich’s bei den „Neutralen‟. Nach Oeſtreich ſind Funken Werden die Ruſſen gewinnen, oder die Türken? Wir haben keine Luſt, Wahrſcheinlichkeitspolitik zu treiben. Das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0020" n="16"/> hatte ihm Europa zu Füßen gelegt und <hi rendition="#g">ſich ſelbſt</hi>. Rußland zerriß<lb/> den Pariſer Friedensvertrag. „Es giebt ja kein Europa mehr.‟ Die<lb/> Petersburger Diplomatie hatte es nun blos noch mit der <hi rendition="#g">Türkei</hi> zu<lb/> thun. Die anderen Mächte zählten nicht, weil ſie einander aufhoben.<lb/> Frankreich und Oeſtreich paralyſirten Deutſchland, Deutſchland paraly-<lb/> ſirte Frankreich und Oeſtreich — alle drei hatten nach der Pfeife Ruß-<lb/> lands zu tanzen. Und England, das freilich nicht unmittelbar unter<lb/> dieſem Bann war, wurde wenigſtens in ſeinen Bewegungen gehemmt<lb/> und daran gehindert, ein nachdrückliches Wort zu ſprechen. „Das bis-<lb/> chen Herzegowina‟, welches der „genialen‟ Staatsmannskunſt des Fürſten<lb/> Bismarck ein ſo glänzendes Zeugniß ausſtellt, iſt langſam, Jedem ſicht-<lb/> bar, unter den Augen der civiliſirten Menſchheit, die den Frieden her-<lb/> beiſehnt, zum ruſſiſch-türkiſchen Krieg geworden, den die Diplomatie ſo<lb/> lange „lokaliſiren‟ wird, bis ihr das entfeſſelte Element die Finger<lb/> verbrennt und vielleicht noch mehr. — —</p><lb/> <p>Schon regt ſich’s bei den „Neutralen‟. Nach Oeſtreich ſind Funken<lb/> hinübergeflogen, und Ungarn ſcheint da und dort Feuer gefangen zu<lb/> haben. England rüſtet, und Frankreich — hat einen von Moltke nicht<lb/> ſonderlich geſchickt applizirten „kalten Waſſerſtrahl‟ aus Berlin nöthig<lb/> gemacht. Nimmt man hierzu die hartnäckig ſich behauptenden Gerüchte<lb/> von einer „Beobachtung‟ der ruſſiſch-<hi rendition="#g">polniſchen</hi> Grenze durch preu-<lb/> ßiſche Truppen, ſo kann der ſimpelſte Durchſchnittsverſtand das Utopi-<lb/> ſtiſche der Diplomaten-Utopie vom „lokaliſirten Krieg‟ mit Händen<lb/> greifen. — —</p><lb/> <p>Werden die <hi rendition="#g">Ruſſen</hi> gewinnen, oder die <hi rendition="#g">Türken?</hi></p><lb/> <p>Wir haben keine Luſt, Wahrſcheinlichkeitspolitik zu treiben. Das<lb/> ſprichwörtliche Pech der Wetterpropheten klebt auch den politiſchen<lb/> Propheten an. Thatſache iſt: die Türkei beſitzt eine ſehr bedeutende<lb/> Widerſtandskraft und hat in jüngſter Zeit Hülfsquellen erſchloſſen, die<lb/> ihre Kraft weſentlich geſteigert haben. <hi rendition="#g">Militäriſch,</hi> das erwähnten<lb/> wir bereits, hat Rußland ſich der Türkei nie entſcheidend überlegen<lb/> gezeigt — ſeine Erfolge waren faſt ausſchließlich <hi rendition="#g">diplomatiſcher</hi><lb/> Art. Während des anderthalbjährigen Prologs zu dem gegenwärtigen<lb/> Krieg hat nun aber die ruſſiſche Diplomatie keineswegs glänzende<lb/> Leiſtungen verrichtet. Sie hat ſogar notoriſch grobe Fehler begangen<lb/> und in der türkiſchen Diplomatie ihre Meiſterin gefunden. <hi rendition="#g">Midhat</hi><lb/> Paſcha und deſſen Nachfolger haben Gortſchakoff und Conſorten um<lb/> ihren diplomatiſchen Ruf gebracht, und der Tölpel Jgnatieff iſt, ähnlich<lb/> ſeinem offiziöſen militäriſchen Vorläufer, dem Humbug Tſchernajeff,<lb/> zur lächerlichen Perſon geworden. Der Angriffskrieg Rußlands be-<lb/> zeichnet diesmal das Ende einer verunglückten diplomatiſchen Campagne<lb/> — das iſt das Neue der Situation. Durch die Revolution der Softas<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0020]
hatte ihm Europa zu Füßen gelegt und ſich ſelbſt. Rußland zerriß
den Pariſer Friedensvertrag. „Es giebt ja kein Europa mehr.‟ Die
Petersburger Diplomatie hatte es nun blos noch mit der Türkei zu
thun. Die anderen Mächte zählten nicht, weil ſie einander aufhoben.
Frankreich und Oeſtreich paralyſirten Deutſchland, Deutſchland paraly-
ſirte Frankreich und Oeſtreich — alle drei hatten nach der Pfeife Ruß-
lands zu tanzen. Und England, das freilich nicht unmittelbar unter
dieſem Bann war, wurde wenigſtens in ſeinen Bewegungen gehemmt
und daran gehindert, ein nachdrückliches Wort zu ſprechen. „Das bis-
chen Herzegowina‟, welches der „genialen‟ Staatsmannskunſt des Fürſten
Bismarck ein ſo glänzendes Zeugniß ausſtellt, iſt langſam, Jedem ſicht-
bar, unter den Augen der civiliſirten Menſchheit, die den Frieden her-
beiſehnt, zum ruſſiſch-türkiſchen Krieg geworden, den die Diplomatie ſo
lange „lokaliſiren‟ wird, bis ihr das entfeſſelte Element die Finger
verbrennt und vielleicht noch mehr. — —
Schon regt ſich’s bei den „Neutralen‟. Nach Oeſtreich ſind Funken
hinübergeflogen, und Ungarn ſcheint da und dort Feuer gefangen zu
haben. England rüſtet, und Frankreich — hat einen von Moltke nicht
ſonderlich geſchickt applizirten „kalten Waſſerſtrahl‟ aus Berlin nöthig
gemacht. Nimmt man hierzu die hartnäckig ſich behauptenden Gerüchte
von einer „Beobachtung‟ der ruſſiſch-polniſchen Grenze durch preu-
ßiſche Truppen, ſo kann der ſimpelſte Durchſchnittsverſtand das Utopi-
ſtiſche der Diplomaten-Utopie vom „lokaliſirten Krieg‟ mit Händen
greifen. — —
Werden die Ruſſen gewinnen, oder die Türken?
Wir haben keine Luſt, Wahrſcheinlichkeitspolitik zu treiben. Das
ſprichwörtliche Pech der Wetterpropheten klebt auch den politiſchen
Propheten an. Thatſache iſt: die Türkei beſitzt eine ſehr bedeutende
Widerſtandskraft und hat in jüngſter Zeit Hülfsquellen erſchloſſen, die
ihre Kraft weſentlich geſteigert haben. Militäriſch, das erwähnten
wir bereits, hat Rußland ſich der Türkei nie entſcheidend überlegen
gezeigt — ſeine Erfolge waren faſt ausſchließlich diplomatiſcher
Art. Während des anderthalbjährigen Prologs zu dem gegenwärtigen
Krieg hat nun aber die ruſſiſche Diplomatie keineswegs glänzende
Leiſtungen verrichtet. Sie hat ſogar notoriſch grobe Fehler begangen
und in der türkiſchen Diplomatie ihre Meiſterin gefunden. Midhat
Paſcha und deſſen Nachfolger haben Gortſchakoff und Conſorten um
ihren diplomatiſchen Ruf gebracht, und der Tölpel Jgnatieff iſt, ähnlich
ſeinem offiziöſen militäriſchen Vorläufer, dem Humbug Tſchernajeff,
zur lächerlichen Perſon geworden. Der Angriffskrieg Rußlands be-
zeichnet diesmal das Ende einer verunglückten diplomatiſchen Campagne
— das iſt das Neue der Situation. Durch die Revolution der Softas
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