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Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840.

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Die Assimilation des Kohlenstoffs.
denen die eine und die andere sich gegenseitig sowohl vor dem
Angriff des Wassers als des Aethers schützen? Kann man
zu Schlüssen dieser Art, welche die Natur und das Verhalten
aufs Vollkommenste erläutern, durch Microscope gelangen?
Ist es möglich, auf rein mechanischem Wege in einem Stück
Brod den Kleber dem Auge sichtbar zu machen, die kleinsten
Theilchen des Klebers in ihrem Zusammenhange und allen
ihren Verzweigungen? Dieß ist durch kein Werkzeug möglich,
und dennoch dürfen wir das Stück Brod nur in eine lau-
warme Abkochung von gekeimter Gerste legen, um alle Stärke,
alles sogenannte Dextrin sich wie Zucker im Wasser auflösen
zu sehen. Man behält zuletzt nichts übrig als den Kleber in
der Form des feinsten Schwammes, dessen kleinste Poren durch
Microscope nur sichtbar sind.

Unzählige Hülfsmittel dieser Art bietet die Chemie zur
Erforschung der Beschaffenheit der Organe dar; sie werden
nicht benutzt, weil sie Niemand bedarf.

Man kennt mit Zuverlässigkeit die wichtigsten Organe und
Functionen von Thieren, die dem bloßen Auge nicht sichtbar
sind, aber in der Pflanzenphysiologie ist ein Blatt stets ein
Blatt. Aber ein Blatt, was Terpentinöl, Citronöl erzeugt,
muß eine andere Beschaffenheit besitzen, als ein Blatt, in dem
Sauerkleesäure gebildet wird. Die Lebenskraft bedient sich in
ihren eigenthümlichen Aeußerungen stets besonderer Werkzeuge,
für jede Verrichtung, eines besonderen Organs. Der auf einen
Citronenbaum gepflanzte Rosenzweig bringt keine Citronen, er
bringt Rosen hervor. Man hat unendlich vieles gesehen, aber
das Sehenswürdigste ist zu sehen nicht versucht worden.

Die zweite Ursache ist, daß man in der Physiologie die
Kunst nicht kennt, Versuche zu machen, eine Kunst, die man
freilich nur in chemischen Laboratorien lernen kann.

Die Aſſimilation des Kohlenſtoffs.
denen die eine und die andere ſich gegenſeitig ſowohl vor dem
Angriff des Waſſers als des Aethers ſchützen? Kann man
zu Schlüſſen dieſer Art, welche die Natur und das Verhalten
aufs Vollkommenſte erläutern, durch Microscope gelangen?
Iſt es möglich, auf rein mechaniſchem Wege in einem Stück
Brod den Kleber dem Auge ſichtbar zu machen, die kleinſten
Theilchen des Klebers in ihrem Zuſammenhange und allen
ihren Verzweigungen? Dieß iſt durch kein Werkzeug möglich,
und dennoch dürfen wir das Stück Brod nur in eine lau-
warme Abkochung von gekeimter Gerſte legen, um alle Stärke,
alles ſogenannte Dextrin ſich wie Zucker im Waſſer auflöſen
zu ſehen. Man behält zuletzt nichts übrig als den Kleber in
der Form des feinſten Schwammes, deſſen kleinſte Poren durch
Microscope nur ſichtbar ſind.

Unzählige Hülfsmittel dieſer Art bietet die Chemie zur
Erforſchung der Beſchaffenheit der Organe dar; ſie werden
nicht benutzt, weil ſie Niemand bedarf.

Man kennt mit Zuverläſſigkeit die wichtigſten Organe und
Functionen von Thieren, die dem bloßen Auge nicht ſichtbar
ſind, aber in der Pflanzenphyſiologie iſt ein Blatt ſtets ein
Blatt. Aber ein Blatt, was Terpentinöl, Citronöl erzeugt,
muß eine andere Beſchaffenheit beſitzen, als ein Blatt, in dem
Sauerkleeſäure gebildet wird. Die Lebenskraft bedient ſich in
ihren eigenthümlichen Aeußerungen ſtets beſonderer Werkzeuge,
für jede Verrichtung, eines beſonderen Organs. Der auf einen
Citronenbaum gepflanzte Roſenzweig bringt keine Citronen, er
bringt Roſen hervor. Man hat unendlich vieles geſehen, aber
das Sehenswürdigſte iſt zu ſehen nicht verſucht worden.

Die zweite Urſache iſt, daß man in der Phyſiologie die
Kunſt nicht kennt, Verſuche zu machen, eine Kunſt, die man
freilich nur in chemiſchen Laboratorien lernen kann.

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[36/0054] Die Aſſimilation des Kohlenſtoffs. denen die eine und die andere ſich gegenſeitig ſowohl vor dem Angriff des Waſſers als des Aethers ſchützen? Kann man zu Schlüſſen dieſer Art, welche die Natur und das Verhalten aufs Vollkommenſte erläutern, durch Microscope gelangen? Iſt es möglich, auf rein mechaniſchem Wege in einem Stück Brod den Kleber dem Auge ſichtbar zu machen, die kleinſten Theilchen des Klebers in ihrem Zuſammenhange und allen ihren Verzweigungen? Dieß iſt durch kein Werkzeug möglich, und dennoch dürfen wir das Stück Brod nur in eine lau- warme Abkochung von gekeimter Gerſte legen, um alle Stärke, alles ſogenannte Dextrin ſich wie Zucker im Waſſer auflöſen zu ſehen. Man behält zuletzt nichts übrig als den Kleber in der Form des feinſten Schwammes, deſſen kleinſte Poren durch Microscope nur ſichtbar ſind. Unzählige Hülfsmittel dieſer Art bietet die Chemie zur Erforſchung der Beſchaffenheit der Organe dar; ſie werden nicht benutzt, weil ſie Niemand bedarf. Man kennt mit Zuverläſſigkeit die wichtigſten Organe und Functionen von Thieren, die dem bloßen Auge nicht ſichtbar ſind, aber in der Pflanzenphyſiologie iſt ein Blatt ſtets ein Blatt. Aber ein Blatt, was Terpentinöl, Citronöl erzeugt, muß eine andere Beſchaffenheit beſitzen, als ein Blatt, in dem Sauerkleeſäure gebildet wird. Die Lebenskraft bedient ſich in ihren eigenthümlichen Aeußerungen ſtets beſonderer Werkzeuge, für jede Verrichtung, eines beſonderen Organs. Der auf einen Citronenbaum gepflanzte Roſenzweig bringt keine Citronen, er bringt Roſen hervor. Man hat unendlich vieles geſehen, aber das Sehenswürdigſte iſt zu ſehen nicht verſucht worden. Die zweite Urſache iſt, daß man in der Phyſiologie die Kunſt nicht kennt, Verſuche zu machen, eine Kunſt, die man freilich nur in chemiſchen Laboratorien lernen kann.

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Zitationshilfe: Liebig, Justus von: Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie. Braunschweig, 1840, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liebig_agricultur_1840/54>, abgerufen am 05.05.2024.