Noten nicht und möchte überhaupt nicht sin- gen, wenn Du mich davon freisprechen woll- test." Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören; mit den freundlichsten Bitten nö- thigte sie Jenny an dem Flügel Platz zu neh- men und wenigstens irgend ein Lied zu singen, um damit der Gesellschaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick schien Jenny nach- zudenken, sie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen sein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, sie griff mit sicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron's. "Mäd- chen von Juda" zu singen, das von Kücken so meisterhaft komponirt ist. Ihre starke, metall- reiche Stimme schien von dem Schmerz in ih- rer Brust einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefste Trauer klang aus ihren Tönen und als sie die zweite Strophe mit den Worten endete: "O Vaterland süß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott sein?" wagte
Noten nicht und möchte überhaupt nicht ſin- gen, wenn Du mich davon freiſprechen woll- teſt.“ Aber davon wollte Frau von Meining nichts hören; mit den freundlichſten Bitten nö- thigte ſie Jenny an dem Flügel Platz zu neh- men und wenigſtens irgend ein Lied zu ſingen, um damit der Geſellſchaft ihren Tribut zu zahlen. Einen Augenblick ſchien Jenny nach- zudenken, ſie mochte um die Wahl eines Liedes verlegen ſein, dann war es, als ob ihr plötzlich ein Gedanke käme, ſie griff mit ſicherer Hand ein paar Accorde und begann Byron's. „Mäd- chen von Juda“ zu ſingen, das von Kücken ſo meiſterhaft komponirt iſt. Ihre ſtarke, metall- reiche Stimme ſchien von dem Schmerz in ih- rer Bruſt einen neuen Zauber zu gewinnen, die tiefſte Trauer klang aus ihren Tönen und als ſie die zweite Strophe mit den Worten endete: „O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! wann wird dir Jehovah ein Rachegott ſein?“ wagte
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Noten nicht und möchte überhaupt nicht ſin-
gen, wenn Du mich davon freiſprechen woll-
teſt.“ Aber davon wollte Frau von Meining
nichts hören; mit den freundlichſten Bitten nö-
thigte ſie Jenny an dem Flügel Platz zu neh-
men und wenigſtens irgend ein Lied zu ſingen,
um damit der Geſellſchaft ihren Tribut zu
zahlen. Einen Augenblick ſchien Jenny nach-
zudenken, ſie mochte um die Wahl eines Liedes
verlegen ſein, dann war es, als ob ihr plötzlich
ein Gedanke käme, ſie griff mit ſicherer Hand
ein paar Accorde und begann Byron's. „Mäd-
chen von Juda“ zu ſingen, das von Kücken ſo
meiſterhaft komponirt iſt. Ihre ſtarke, metall-
reiche Stimme ſchien von dem Schmerz in ih-
rer Bruſt einen neuen Zauber zu gewinnen, die
tiefſte Trauer klang aus ihren Tönen und als
ſie die zweite Strophe mit den Worten endete:
„O Vaterland ſüß, o Vaterland mein! wann
wird dir Jehovah ein Rachegott ſein?“ wagte
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 2. Leipzig, 1843, S. 258. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny02_1843/268>, abgerufen am 10.05.2024.
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