verstört in die Stube seiner Tante trat, und indem er ihr einen Brief reichte, die Worte ausrief: "Mein Vater stirbt, und ich muß fort."
Die Commerzienräthin erschrak, so sehr als die kaltblütige Frau es vermochte. Denn so unangenehm ihr auch die plötzliche Entfernung William's erschien, so leuchtete ihr doch der materielle Vortheil ein, der für den Sohn ent- stände, wenn er schon jetzt in den Besitz der väterlichen Schätze käme. Sie versäumte nicht, in wohlgewählten Worten ihr tiefes Bedauern über das Unglück auszudrücken, das ihrer Schwester drohe; sie brachte es selbst bis zu Thränen bei dem Gedanken an William's Ab- reise, und dieser, aufgeregt durch die entsetz- liche Nachricht, die ihn bis in das innerste Herz getroffen, ließ sich von der künstlichen Theilnahme der schlauen Frau täuschen. Er mußte Jemanden finden, dem er seine Gefühle
verſtört in die Stube ſeiner Tante trat, und indem er ihr einen Brief reichte, die Worte ausrief: „Mein Vater ſtirbt, und ich muß fort.“
Die Commerzienräthin erſchrak, ſo ſehr als die kaltblütige Frau es vermochte. Denn ſo unangenehm ihr auch die plötzliche Entfernung William's erſchien, ſo leuchtete ihr doch der materielle Vortheil ein, der für den Sohn ent- ſtände, wenn er ſchon jetzt in den Beſitz der väterlichen Schätze käme. Sie verſäumte nicht, in wohlgewählten Worten ihr tiefes Bedauern über das Unglück auszudrücken, das ihrer Schweſter drohe; ſie brachte es ſelbſt bis zu Thränen bei dem Gedanken an William's Ab- reiſe, und dieſer, aufgeregt durch die entſetz- liche Nachricht, die ihn bis in das innerſte Herz getroffen, ließ ſich von der künſtlichen Theilnahme der ſchlauen Frau täuſchen. Er mußte Jemanden finden, dem er ſeine Gefühle
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verſtört in die Stube ſeiner Tante trat,
und indem er ihr einen Brief reichte, die
Worte ausrief: „Mein Vater ſtirbt, und ich
muß fort.“
Die Commerzienräthin erſchrak, ſo ſehr als
die kaltblütige Frau es vermochte. Denn ſo
unangenehm ihr auch die plötzliche Entfernung
William's erſchien, ſo leuchtete ihr doch der
materielle Vortheil ein, der für den Sohn ent-
ſtände, wenn er ſchon jetzt in den Beſitz der
väterlichen Schätze käme. Sie verſäumte nicht,
in wohlgewählten Worten ihr tiefes Bedauern
über das Unglück auszudrücken, das ihrer
Schweſter drohe; ſie brachte es ſelbſt bis zu
Thränen bei dem Gedanken an William's Ab-
reiſe, und dieſer, aufgeregt durch die entſetz-
liche Nachricht, die ihn bis in das innerſte
Herz getroffen, ließ ſich von der künſtlichen
Theilnahme der ſchlauen Frau täuſchen. Er
mußte Jemanden finden, dem er ſeine Gefühle
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/299>, abgerufen am 22.11.2024.
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