Herr und Madame Meier eine kleine Spazier- fahrt unternommen hatten, die Jenny mitzu- machen abgelehnt, blieb sie mit Joseph allein in dem Eßzimmer zurück und das Gespräch wandte sich bald auf das Christenthum, da Beide gleich lebhaft bei dem Thema betheiligt waren.
"Was ist es denn eigentlich", fragte Joseph sie, "was Dich so urplötzlich zu dem Entschlusse gebracht hat?"
"Urplötzlich kannst Du es nicht nennen", antwortete sie. "Ich habe bis jetzt überhaupt nicht über mich selbst nachgedacht; ich habe wie ein Kind in den Tag hineingelebt. Nun ich älter werde und ernster über mich nachdenke, fühle ich, daß die Halbheit, in der ich erzogen bin, mich nicht befriedigt, daß ich nicht glücklich bin, und will das ändern."
Joseph lächelte unwillkürlich. "Und Du hoffst, das Christenthum werde Dich glücklicher
Herr und Madame Meier eine kleine Spazier- fahrt unternommen hatten, die Jenny mitzu- machen abgelehnt, blieb ſie mit Joſeph allein in dem Eßzimmer zurück und das Geſpräch wandte ſich bald auf das Chriſtenthum, da Beide gleich lebhaft bei dem Thema betheiligt waren.
„Was iſt es denn eigentlich“, fragte Joſeph ſie, „was Dich ſo urplötzlich zu dem Entſchluſſe gebracht hat?“
„Urplötzlich kannſt Du es nicht nennen“, antwortete ſie. „Ich habe bis jetzt überhaupt nicht über mich ſelbſt nachgedacht; ich habe wie ein Kind in den Tag hineingelebt. Nun ich älter werde und ernſter über mich nachdenke, fühle ich, daß die Halbheit, in der ich erzogen bin, mich nicht befriedigt, daß ich nicht glücklich bin, und will das ändern.“
Joſeph lächelte unwillkürlich. „Und Du hoffſt, das Chriſtenthum werde Dich glücklicher
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0173"n="161"/>
Herr und Madame Meier eine kleine Spazier-<lb/>
fahrt unternommen hatten, die Jenny mitzu-<lb/>
machen abgelehnt, blieb ſie mit Joſeph allein<lb/>
in dem Eßzimmer zurück und das Geſpräch<lb/>
wandte ſich bald auf das Chriſtenthum, da<lb/>
Beide gleich lebhaft bei dem Thema betheiligt<lb/>
waren.</p><lb/><p>„Was iſt es denn eigentlich“, fragte Joſeph<lb/>ſie, „was Dich ſo urplötzlich zu dem Entſchluſſe<lb/>
gebracht hat?“</p><lb/><p>„Urplötzlich kannſt Du es nicht nennen“,<lb/>
antwortete ſie. „Ich habe bis jetzt überhaupt<lb/>
nicht über mich ſelbſt nachgedacht; ich habe wie<lb/>
ein Kind in den Tag hineingelebt. Nun ich<lb/>
älter werde und ernſter über mich nachdenke,<lb/>
fühle ich, daß die Halbheit, in der ich erzogen<lb/>
bin, mich nicht befriedigt, daß ich nicht glücklich<lb/>
bin, und will das ändern.“</p><lb/><p>Joſeph lächelte unwillkürlich. „Und Du<lb/>
hoffſt, das Chriſtenthum werde Dich glücklicher<lb/></p></div></body></text></TEI>
[161/0173]
Herr und Madame Meier eine kleine Spazier-
fahrt unternommen hatten, die Jenny mitzu-
machen abgelehnt, blieb ſie mit Joſeph allein
in dem Eßzimmer zurück und das Geſpräch
wandte ſich bald auf das Chriſtenthum, da
Beide gleich lebhaft bei dem Thema betheiligt
waren.
„Was iſt es denn eigentlich“, fragte Joſeph
ſie, „was Dich ſo urplötzlich zu dem Entſchluſſe
gebracht hat?“
„Urplötzlich kannſt Du es nicht nennen“,
antwortete ſie. „Ich habe bis jetzt überhaupt
nicht über mich ſelbſt nachgedacht; ich habe wie
ein Kind in den Tag hineingelebt. Nun ich
älter werde und ernſter über mich nachdenke,
fühle ich, daß die Halbheit, in der ich erzogen
bin, mich nicht befriedigt, daß ich nicht glücklich
bin, und will das ändern.“
Joſeph lächelte unwillkürlich. „Und Du
hoffſt, das Chriſtenthum werde Dich glücklicher
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/173>, abgerufen am 09.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.