die warmen Herzen trennt. Was bot das Leben ihm? Kränkungen waren ihm geworden, seit er zum ersten Bewußtsein erwacht war; weder Mühe noch Fleiß war ihm vergolten worden, wie er es gewünscht hatte und zu hoffen berechtigt war. Nun hatte sein Herz sich dem vernichtenden Einflusse allmälig ent- zogen, es war neu belebt und erblüht in dem wärmenden Hauch einer edlen Liebe, er hatte die Gefährtin gefunden, an deren Seite er den Lebensgang zu gehen begehrte -- und wieder trat das alte Schreckbild zwischen ihn und sein Glück.
Er sprang auf, und fing aufs Neue an, den Kai entlang zu schreiten. Warum sollte er nicht, wie tausend Andere, einem Glauben entsagen, dessen Form allein ihn von der übri- gen Menschheit trennte? Was band ihn an Moses und seine Gesetze? Es sträubte sich bei diesen ebenso viel gegen seine Vernunft, als bei
die warmen Herzen trennt. Was bot das Leben ihm? Kränkungen waren ihm geworden, ſeit er zum erſten Bewußtſein erwacht war; weder Mühe noch Fleiß war ihm vergolten worden, wie er es gewünſcht hatte und zu hoffen berechtigt war. Nun hatte ſein Herz ſich dem vernichtenden Einfluſſe allmälig ent- zogen, es war neu belebt und erblüht in dem wärmenden Hauch einer edlen Liebe, er hatte die Gefährtin gefunden, an deren Seite er den Lebensgang zu gehen begehrte — und wieder trat das alte Schreckbild zwiſchen ihn und ſein Glück.
Er ſprang auf, und fing aufs Neue an, den Kai entlang zu ſchreiten. Warum ſollte er nicht, wie tauſend Andere, einem Glauben entſagen, deſſen Form allein ihn von der übri- gen Menſchheit trennte? Was band ihn an Moſes und ſeine Geſetze? Es ſträubte ſich bei dieſen ebenſo viel gegen ſeine Vernunft, als bei
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die warmen Herzen trennt. Was bot das
Leben ihm? Kränkungen waren ihm geworden,
ſeit er zum erſten Bewußtſein erwacht war;
weder Mühe noch Fleiß war ihm vergolten
worden, wie er es gewünſcht hatte und zu
hoffen berechtigt war. Nun hatte ſein Herz
ſich dem vernichtenden Einfluſſe allmälig ent-
zogen, es war neu belebt und erblüht in dem
wärmenden Hauch einer edlen Liebe, er hatte
die Gefährtin gefunden, an deren Seite er den
Lebensgang zu gehen begehrte — und wieder
trat das alte Schreckbild zwiſchen ihn und
ſein Glück.
Er ſprang auf, und fing aufs Neue an,
den Kai entlang zu ſchreiten. Warum ſollte
er nicht, wie tauſend Andere, einem Glauben
entſagen, deſſen Form allein ihn von der übri-
gen Menſchheit trennte? Was band ihn an
Moſes und ſeine Geſetze? Es ſträubte ſich bei
dieſen ebenſo viel gegen ſeine Vernunft, als bei
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Lewald, Fanny: Jenny. Bd. 1. Leipzig, 1843, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lewald_jenny01_1843/156>, abgerufen am 23.11.2024.
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