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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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innern Werth eine Zeitlang in dem Andenken der
Welt erhalten? In dieser Betrachtung also, bitte
ich voritzo mit meiner Prosa --

Aber ich bilde mir ein, daß man mich meine Bitte
nicht einmal aussagen läßt. Wenn ich mit der all-
zumuntern, und leicht auf Umwege führenden Erzeh-
lungsart des la Fontaine nicht zufrieden war, mußte
ich darum auf das andere Extremum verfallen?
Warum wandte ich mich nicht auf die Mittelstrasse
des Phädrus, und erzehlte in der zierlichen Kürze
des Römers, aber doch in Versen? Denn prosai-
sche Fabeln; wer wird die lesen wollen! -- Diesen
Vorwurf werde ich unfehlbar zu hören bekommen.
Was will ich im voraus darauf antworten? Zweyer-
ley. Erstlich; was man mir am leichtesten glauben
wird: ich fühlte mich zu unfähig, jene zierliche
Kürze in Versen zu erreichen. La Fontaine der
eben das bey sich fühlte, schob die Schuld auf seine
Sprache. Ich habe von der meinigen eine zu gute
Meinung, und glaube überhaupt, daß ein Genie
seiner angebohrnen Sprache, sie mag seyn welche
es will, eine Form ertheilen kann, welche er will.
Für ein Genie sind die Sprachen alle von einer Na-

tur;

innern Werth eine Zeitlang in dem Andenken der
Welt erhalten? In dieſer Betrachtung alſo, bitte
ich voritzo mit meiner Proſa —

Aber ich bilde mir ein, daß man mich meine Bitte
nicht einmal ausſagen läßt. Wenn ich mit der all-
zumuntern, und leicht auf Umwege führenden Erzeh-
lungsart des la Fontaine nicht zufrieden war, mußte
ich darum auf das andere Extremum verfallen?
Warum wandte ich mich nicht auf die Mittelſtraſſe
des Phädrus, und erzehlte in der zierlichen Kürze
des Römers, aber doch in Verſen? Denn proſai-
ſche Fabeln; wer wird die leſen wollen! — Dieſen
Vorwurf werde ich unfehlbar zu hören bekommen.
Was will ich im voraus darauf antworten? Zweyer-
ley. Erſtlich; was man mir am leichteſten glauben
wird: ich fühlte mich zu unfähig, jene zierliche
Kürze in Verſen zu erreichen. La Fontaine der
eben das bey ſich fühlte, ſchob die Schuld auf ſeine
Sprache. Ich habe von der meinigen eine zu gute
Meinung, und glaube überhaupt, daß ein Genie
ſeiner angebohrnen Sprache, ſie mag ſeyn welche
es will, eine Form ertheilen kann, welche er will.
Für ein Genie ſind die Sprachen alle von einer Na-

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[228/0248] innern Werth eine Zeitlang in dem Andenken der Welt erhalten? In dieſer Betrachtung alſo, bitte ich voritzo mit meiner Proſa — Aber ich bilde mir ein, daß man mich meine Bitte nicht einmal ausſagen läßt. Wenn ich mit der all- zumuntern, und leicht auf Umwege führenden Erzeh- lungsart des la Fontaine nicht zufrieden war, mußte ich darum auf das andere Extremum verfallen? Warum wandte ich mich nicht auf die Mittelſtraſſe des Phädrus, und erzehlte in der zierlichen Kürze des Römers, aber doch in Verſen? Denn proſai- ſche Fabeln; wer wird die leſen wollen! — Dieſen Vorwurf werde ich unfehlbar zu hören bekommen. Was will ich im voraus darauf antworten? Zweyer- ley. Erſtlich; was man mir am leichteſten glauben wird: ich fühlte mich zu unfähig, jene zierliche Kürze in Verſen zu erreichen. La Fontaine der eben das bey ſich fühlte, ſchob die Schuld auf ſeine Sprache. Ich habe von der meinigen eine zu gute Meinung, und glaube überhaupt, daß ein Genie ſeiner angebohrnen Sprache, ſie mag ſeyn welche es will, eine Form ertheilen kann, welche er will. Für ein Genie ſind die Sprachen alle von einer Na- tur;

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/248>, abgerufen am 02.05.2024.