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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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sen, ist also nicht gehalten, auf die Naturn der Ge-
schöpfe zu sehen, die er in seinen Fabeln auffuhret?
Er kann das Schaf verwegen, den Wolf sanftmü-
thig, den Esel feurig vorstellen; er kann die Tau-
ben als Falken brauchen und die Hunde von der
Hasen jagen lassen. Alles dieses kömmt ihnen nicht
zu; aber der Dichter macht eine sittliche Fabel,
und er darf es ihnen beylegen. -- Wie nöthig ist es
dieser gefährlichen Auslegung, diesen mit einer Ueber-
schwemmung der abgeschmacktesten Mährchen dro-
henden Folgerungen, vorzubauen!

Man erlaube mir also, mich auf meinen eigenen
Weg wieder zurückzuwenden. Ich will den Welt-
weisen so wenig als möglich aus dem Gesichte ver-
lieren; und vielleicht kommen wir, am Ende der
Bahn, zusammen. -- Ich habe gesagt, und glaube
es erwiesen zu haben, daß auf der Erhebung des
einzeln Falles zur Wirklichkeit, der wesentliche Un-
terschied der Parabel, oder des Exempels über-
haupt, und der Fabel beruhet. Diese Wirklich-
keit ist der Fabel so unentbehrlich, daß sie sich eher
von ihrer Möglichkeit, als von jener etwas abbre-

chen

ſen, iſt alſo nicht gehalten, auf die Naturn der Ge-
ſchöpfe zu ſehen, die er in ſeinen Fabeln auffuhret?
Er kann das Schaf verwegen, den Wolf ſanftmü-
thig, den Eſel feurig vorſtellen; er kann die Tau-
ben als Falken brauchen und die Hunde von der
Haſen jagen laſſen. Alles dieſes kömmt ihnen nicht
zu; aber der Dichter macht eine ſittliche Fabel,
und er darf es ihnen beylegen. — Wie nöthig iſt es
dieſer gefährlichen Auslegung, dieſen mit einer Ueber-
ſchwemmung der abgeſchmackteſten Mährchen dro-
henden Folgerungen, vorzubauen!

Man erlaube mir alſo, mich auf meinen eigenen
Weg wieder zurückzuwenden. Ich will den Welt-
weiſen ſo wenig als möglich aus dem Geſichte ver-
lieren; und vielleicht kommen wir, am Ende der
Bahn, zuſammen. — Ich habe geſagt, und glaube
es erwieſen zu haben, daß auf der Erhebung des
einzeln Falles zur Wirklichkeit, der weſentliche Un-
terſchied der Parabel, oder des Exempels über-
haupt, und der Fabel beruhet. Dieſe Wirklich-
keit iſt der Fabel ſo unentbehrlich, daß ſie ſich eher
von ihrer Möglichkeit, als von jener etwas abbre-

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[200/0220] ſen, iſt alſo nicht gehalten, auf die Naturn der Ge- ſchöpfe zu ſehen, die er in ſeinen Fabeln auffuhret? Er kann das Schaf verwegen, den Wolf ſanftmü- thig, den Eſel feurig vorſtellen; er kann die Tau- ben als Falken brauchen und die Hunde von der Haſen jagen laſſen. Alles dieſes kömmt ihnen nicht zu; aber der Dichter macht eine ſittliche Fabel, und er darf es ihnen beylegen. — Wie nöthig iſt es dieſer gefährlichen Auslegung, dieſen mit einer Ueber- ſchwemmung der abgeſchmackteſten Mährchen dro- henden Folgerungen, vorzubauen! Man erlaube mir alſo, mich auf meinen eigenen Weg wieder zurückzuwenden. Ich will den Welt- weiſen ſo wenig als möglich aus dem Geſichte ver- lieren; und vielleicht kommen wir, am Ende der Bahn, zuſammen. — Ich habe geſagt, und glaube es erwieſen zu haben, daß auf der Erhebung des einzeln Falles zur Wirklichkeit, der weſentliche Un- terſchied der Parabel, oder des Exempels über- haupt, und der Fabel beruhet. Dieſe Wirklich- keit iſt der Fabel ſo unentbehrlich, daß ſie ſich eher von ihrer Möglichkeit, als von jener etwas abbre- chen

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/220>, abgerufen am 23.11.2024.