glauben macht, und diese innere Wahrscheinlichkeit sich eben so wohl in einem erdichteten Falle finden kann: was kann die Wirklichkeit des erstern für eine grössere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da das historische Wahre nicht immer auch wahrschem- lich ist; da Aristoteles selbst die Sentenz des Aga- tho billiget:
Takh an tis eikos auto tout einai legoi: Brotoisi polla tugkhanein ou'k eikota:
da er hier selbst sagt, daß das Vergangene nur gemeiniglich(epi to polu) dem Zukünftigen ähn- lich sey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier- inn von der Natur abzugehen, und alles, was er für wahr ausgiebt, auch wahrscheinlich zu machen: so sollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den Fabeln, überhaupt zu reden, in Ansehung der Ueber- zeugungskraft, der Vorzug vor den historischen Exempel gebühre etc.
Und nunmehr glaube ich meine Meinung von dem Wesen der Fabel genugsam verbreitet zu haben. Ich fasse daher alles zusammen und sage: Wenn
wir
glauben macht, und dieſe innere Wahrſcheinlichkeit ſich eben ſo wohl in einem erdichteten Falle finden kann: was kann die Wirklichkeit des erſtern für eine gröſſere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da das hiſtoriſche Wahre nicht immer auch wahrſchem- lich iſt; da Ariſtoteles ſelbſt die Sentenz des Aga- tho billiget:
da er hier ſelbſt ſagt, daß das Vergangene nur gemeiniglich(ἑπι το πολυ) dem Zukünftigen ähn- lich ſey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier- inn von der Natur abzugehen, und alles, was er für wahr ausgiebt, auch wahrſcheinlich zu machen: ſo ſollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den Fabeln, überhaupt zu reden, in Anſehung der Ueber- zeugungskraft, der Vorzug vor den hiſtoriſchen Exempel gebühre ꝛc.
Und nunmehr glaube ich meine Meinung von dem Weſen der Fabel genugſam verbreitet zu haben. Ich faſſe daher alles zuſammen und ſage: Wenn
wir
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glauben macht, und dieſe innere Wahrſcheinlichkeit
ſich eben ſo wohl in einem erdichteten Falle finden
kann: was kann die Wirklichkeit des erſtern für eine
gröſſere Kraft auf meine Ueberzeugung haben, als
die Wirklichteit des andern? Ja noch mehr. Da
das hiſtoriſche Wahre nicht immer auch wahrſchem-
lich iſt; da Ariſtoteles ſelbſt die Sentenz des Aga-
tho billiget:
Ταχ̛ ἀν τις ἐικος αυτο τουτ̛ ἐιναι λεγοι:
Βροτοισι πολλα τυγχανειν ου᾽κ ἐικοτα:
da er hier ſelbſt ſagt, daß das Vergangene nur
gemeiniglich (ἑπι το πολυ) dem Zukünftigen ähn-
lich ſey; der Dichter aber die freye Gewalt hat, hier-
inn von der Natur abzugehen, und alles, was er
für wahr ausgiebt, auch wahrſcheinlich zu machen:
ſo ſollte ich meinen, wäre es wohl klar, daß den
Fabeln, überhaupt zu reden, in Anſehung der Ueber-
zeugungskraft, der Vorzug vor den hiſtoriſchen
Exempel gebühre ꝛc.
Und nunmehr glaube ich meine Meinung von
dem Weſen der Fabel genugſam verbreitet zu haben.
Ich faſſe daher alles zuſammen und ſage: Wenn
wir
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/191>, abgerufen am 06.07.2024.
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