-- Der Fabulist ist glücklich, und zu unserm Vergnügen an seinem Ziele. Aber auch die Geschichte? Wie ging es dem Greise? Ließ ihn der Tod leben, oder nahm er ihn mit? Um alle solche Fragen beküm- mert sich der Fabulist nicht; der dramatische Dich- ter aber muß ihnen vorbauen.
Und so wird man hundert Beyspiele finden, daß wir uns zu einer Handlung für die Fabel mit weit wenigerm begnügen, als zu einer Handlung für das Heldengedichte oder das Drama. Will man daher eine allgemeine Erklärung von der Handlung ge- ben, so kann man unmöglich die Erklärung des Batteux dafür brauchen, sondern muß sie nothwen- dig so weitläuftig machen, als ich es oben gethan habe. -- Aber der Sprachgebrauch? wird man ein- werffen. Ich gestehe es; dem Sprachgebrauche nach, heißt gemeiniglich das eine Handlung, was einem gewissen Vorsatze zu Folge unternommen wird; dem Sprachgebrauche nach, muß dieser Vorsatz ganz erreicht seyn, wenn man soll sagen können,
daß
*Fab. Aesop. 20.
„lieber Tod, mir meine Laſt wieder aufhelfen *.
— Der Fabuliſt iſt glücklich, und zu unſerm Vergnügen an ſeinem Ziele. Aber auch die Geſchichte? Wie ging es dem Greiſe? Ließ ihn der Tod leben, oder nahm er ihn mit? Um alle ſolche Fragen beküm- mert ſich der Fabuliſt nicht; der dramatiſche Dich- ter aber muß ihnen vorbauen.
Und ſo wird man hundert Beyſpiele finden, daß wir uns zu einer Handlung für die Fabel mit weit wenigerm begnügen, als zu einer Handlung für das Heldengedichte oder das Drama. Will man daher eine allgemeine Erklärung von der Handlung ge- ben, ſo kann man unmöglich die Erklärung des Batteux dafür brauchen, ſondern muß ſie nothwen- dig ſo weitläuftig machen, als ich es oben gethan habe. — Aber der Sprachgebrauch? wird man ein- werffen. Ich geſtehe es; dem Sprachgebrauche nach, heißt gemeiniglich das eine Handlung, was einem gewiſſen Vorſatze zu Folge unternommen wird; dem Sprachgebrauche nach, muß dieſer Vorſatz ganz erreicht ſeyn, wenn man ſoll ſagen können,
daß
*Fab. Aeſop. 20.
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„lieber Tod, mir meine Laſt wieder aufhelfen *. —
Der Fabuliſt iſt glücklich, und zu unſerm Vergnügen
an ſeinem Ziele. Aber auch die Geſchichte? Wie
ging es dem Greiſe? Ließ ihn der Tod leben, oder
nahm er ihn mit? Um alle ſolche Fragen beküm-
mert ſich der Fabuliſt nicht; der dramatiſche Dich-
ter aber muß ihnen vorbauen.
Und ſo wird man hundert Beyſpiele finden, daß
wir uns zu einer Handlung für die Fabel mit weit
wenigerm begnügen, als zu einer Handlung für das
Heldengedichte oder das Drama. Will man daher
eine allgemeine Erklärung von der Handlung ge-
ben, ſo kann man unmöglich die Erklärung des
Batteux dafür brauchen, ſondern muß ſie nothwen-
dig ſo weitläuftig machen, als ich es oben gethan
habe. — Aber der Sprachgebrauch? wird man ein-
werffen. Ich geſtehe es; dem Sprachgebrauche
nach, heißt gemeiniglich das eine Handlung, was
einem gewiſſen Vorſatze zu Folge unternommen wird;
dem Sprachgebrauche nach, muß dieſer Vorſatz
ganz erreicht ſeyn, wenn man ſoll ſagen können,
daß
* Fab. Aeſop. 20.
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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/176>, abgerufen am 16.02.2025.
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