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Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759.

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in der es sich in einem und eben demselben Augen-
blicke befindet. In einem Bilde kann ich zwar also
wohl eine moralische Wahrheit erkennen, aber es ist
darum noch keine Fabel. Der mitten im Wasser
dürstende Tantalus ist ein Bild, und ein Bild,
das mir die Möglichkeit zeiget, man könne auch bey
dem größten Ueberflusse darben. Aber ist dieses
Bild deswegen eine Fabel? So auch folgendes kleine
Gedicht:

Cursu veloci pendens in novacula,
Calvus, comosa fronte, nudo corpore,
Quem si occuparis, teneas; elapsum semel
Non ipse possit Jupiter reprehendere;
Occasionem rerum significat brevem.
Effectus impediret ne segnis mora
Finxere antiqui talem effigiem temporis.

Wer wird diese Zeilen für eine Fabel erkennen, ob
sie schon Phädrus als eine solche unter seinen Fa-
beln mit unterlaufen läßt? * Ein jedes Gleichniß,
ein jedes Emblema würde eine Fabel seyn, wenn
sie nicht eine Mannigfaltigkeit von Bildern, und
zwar zu Einem Zwecke übereinstimmenden Bildern;
wenn sie, mit einem Worte, nicht das nothwen-

dig
* Libri V. Fab. 8.
J 4

in der es ſich in einem und eben demſelben Augen-
blicke befindet. In einem Bilde kann ich zwar alſo
wohl eine moraliſche Wahrheit erkennen, aber es iſt
darum noch keine Fabel. Der mitten im Waſſer
dürſtende Tantalus iſt ein Bild, und ein Bild,
das mir die Möglichkeit zeiget, man könne auch bey
dem größten Ueberfluſſe darben. Aber iſt dieſes
Bild deswegen eine Fabel? So auch folgendes kleine
Gedicht:

Curſu veloci pendens in novacula,
Calvus, comoſa fronte, nudo corpore,
Quem ſi occuparis, teneas; elapſum ſemel
Non ipſe poſſit Jupiter reprehendere;
Occaſionem rerum ſignificat brevem.
Effectus impediret ne ſegnis mora
Finxere antiqui talem effigiem temporis.

Wer wird dieſe Zeilen für eine Fabel erkennen, ob
ſie ſchon Phädrus als eine ſolche unter ſeinen Fa-
beln mit unterlaufen läßt? * Ein jedes Gleichniß,
ein jedes Emblema würde eine Fabel ſeyn, wenn
ſie nicht eine Mannigfaltigkeit von Bildern, und
zwar zu Einem Zwecke übereinſtimmenden Bildern;
wenn ſie, mit einem Worte, nicht das nothwen-

dig
* Libri V. Fab. 8.
J 4
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[135/0155] in der es ſich in einem und eben demſelben Augen- blicke befindet. In einem Bilde kann ich zwar alſo wohl eine moraliſche Wahrheit erkennen, aber es iſt darum noch keine Fabel. Der mitten im Waſſer dürſtende Tantalus iſt ein Bild, und ein Bild, das mir die Möglichkeit zeiget, man könne auch bey dem größten Ueberfluſſe darben. Aber iſt dieſes Bild deswegen eine Fabel? So auch folgendes kleine Gedicht: Curſu veloci pendens in novacula, Calvus, comoſa fronte, nudo corpore, Quem ſi occuparis, teneas; elapſum ſemel Non ipſe poſſit Jupiter reprehendere; Occaſionem rerum ſignificat brevem. Effectus impediret ne ſegnis mora Finxere antiqui talem effigiem temporis. Wer wird dieſe Zeilen für eine Fabel erkennen, ob ſie ſchon Phädrus als eine ſolche unter ſeinen Fa- beln mit unterlaufen läßt? * Ein jedes Gleichniß, ein jedes Emblema würde eine Fabel ſeyn, wenn ſie nicht eine Mannigfaltigkeit von Bildern, und zwar zu Einem Zwecke übereinſtimmenden Bildern; wenn ſie, mit einem Worte, nicht das nothwen- dig * Libri V. Fab. 8. J 4

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Zitationshilfe: Lessing, Gotthold Ephraim: Fabeln. Berlin, 1759, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_fabeln_1759/155>, abgerufen am 22.11.2024.