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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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meines Geschwätze darüber, hat man in ver-
schiedenen Sprachen genug: aber specielle, von
jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Prä-
cision abgefaßte Regeln, nach welchen der Ta-
del oder das Lob des Akteurs in einem besondern
Falle zu bestimmen sey, deren wüßte ich kaum
zwey oder drey. Daher kömmt es, daß alles
Raisonnement über diese Materie immer so
schwankend und vieldeutig scheinet, daß es eben
kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der
nichts als eine glückliche Routine hat, sich auf
alle Weise dadurch beleidiget findet. Gelobt
wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit
viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht
einmal wissen, ob man ihn tadeln oder loben
wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung
schon längst gemacht, daß die Empfindlichkeit
der Künstler, in Ansehung der Critik, in eben
dem Verhältnisse steigt, in welchem die Gewiß-
heit und Deutlichkeit und Menge der Grundsätze
ihrer Künste abnimt. -- So viel zu meiner, und
selbst zu deren Entschuldigung, ohne die ich mich
nicht zu entschuldigen hätte.

Aber die erstere Hälfte meines Versprechens?
Bey dieser ist freylich das Hier zur Zeit noch
nicht sehr in Betrachtung gekommen, -- und
wie hätte es auch können? Die Schranken sind
noch kaum geöffnet, und man wollte die Wett-
läufer lieber schon bey dem Ziele sehen; bey ei-

nem

meines Geſchwätze darüber, hat man in ver-
ſchiedenen Sprachen genug: aber ſpecielle, von
jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Prä-
ciſion abgefaßte Regeln, nach welchen der Ta-
del oder das Lob des Akteurs in einem beſondern
Falle zu beſtimmen ſey, deren wüßte ich kaum
zwey oder drey. Daher kömmt es, daß alles
Raiſonnement über dieſe Materie immer ſo
ſchwankend und vieldeutig ſcheinet, daß es eben
kein Wunder iſt, wenn der Schauſpieler, der
nichts als eine glückliche Routine hat, ſich auf
alle Weiſe dadurch beleidiget findet. Gelobt
wird er ſich nie genug, getadelt aber allezeit
viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht
einmal wiſſen, ob man ihn tadeln oder loben
wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung
ſchon längſt gemacht, daß die Empfindlichkeit
der Künſtler, in Anſehung der Critik, in eben
dem Verhältniſſe ſteigt, in welchem die Gewiß-
heit und Deutlichkeit und Menge der Grundſätze
ihrer Künſte abnimt. — So viel zu meiner, und
ſelbſt zu deren Entſchuldigung, ohne die ich mich
nicht zu entſchuldigen hätte.

Aber die erſtere Hälfte meines Verſprechens?
Bey dieſer iſt freylich das Hier zur Zeit noch
nicht ſehr in Betrachtung gekommen, — und
wie hätte es auch können? Die Schranken ſind
noch kaum geöffnet, und man wollte die Wett-
läufer lieber ſchon bey dem Ziele ſehen; bey ei-

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[393/0399] meines Geſchwätze darüber, hat man in ver- ſchiedenen Sprachen genug: aber ſpecielle, von jedermann erkannte, mit Deutlichkeit und Prä- ciſion abgefaßte Regeln, nach welchen der Ta- del oder das Lob des Akteurs in einem beſondern Falle zu beſtimmen ſey, deren wüßte ich kaum zwey oder drey. Daher kömmt es, daß alles Raiſonnement über dieſe Materie immer ſo ſchwankend und vieldeutig ſcheinet, daß es eben kein Wunder iſt, wenn der Schauſpieler, der nichts als eine glückliche Routine hat, ſich auf alle Weiſe dadurch beleidiget findet. Gelobt wird er ſich nie genug, getadelt aber allezeit viel zu viel glauben: ja öfters wird er gar nicht einmal wiſſen, ob man ihn tadeln oder loben wollen. Ueberhaupt hat man die Anmerkung ſchon längſt gemacht, daß die Empfindlichkeit der Künſtler, in Anſehung der Critik, in eben dem Verhältniſſe ſteigt, in welchem die Gewiß- heit und Deutlichkeit und Menge der Grundſätze ihrer Künſte abnimt. — So viel zu meiner, und ſelbſt zu deren Entſchuldigung, ohne die ich mich nicht zu entſchuldigen hätte. Aber die erſtere Hälfte meines Verſprechens? Bey dieſer iſt freylich das Hier zur Zeit noch nicht ſehr in Betrachtung gekommen, — und wie hätte es auch können? Die Schranken ſind noch kaum geöffnet, und man wollte die Wett- läufer lieber ſchon bey dem Ziele ſehen; bey ei- nem

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/399>, abgerufen am 07.05.2024.