Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

mit wir sie auch für Genies halten sollen. Doch
sie verrathen zu sehr, daß sie nicht einen Funken
davon in sich spüren, wenn sie in einem und eben
demselben Athem hinzusetzen: "die Regeln un-
terdrücken das Genie!" -- Als ob sich Genie
durch etwas in der Welt unterdrücken liesse!
Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst
gestehen, aus ihm hergeleitet ist. Nicht jeder
Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein
gebohrner Kunstrichter. Es hat die Probe aller
Regeln in sich. Es begreift und behält und be-
folgt nur die, die ihm seine Empfindung in
Worten ausdrücken. Und diese seine in Wor-
ten ausgedrückte Empfindung sollte seine Thätig-
keit verringern können? Vernünftelt darüber
mit ihm, so viel ihr wollt; es versteht euch nur,
in so fern es eure allgemeinen Sätze den Augen-
blick in einem einzeln Falle anschauend erkennet;
und nur von diesem einzeln Falle bleibt Erinne-
rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf
seine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir-
ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen
Beyspiels, die Erinnerung einer eignen glück-
lichen Erfahrung auf sie zu wirken im Stande
ist. Behaupten also, daß Regeln und Critik
das Genie unterdrücken können: heißt mit an-
dern Worten behaupten, daß Beyspiele und
Uebung eben dieses vermögen; heißt, das Genie
nicht allein auf sich selbst, heißt es sogar, le-

dig-
X x 3

mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch
ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken
davon in ſich ſpüren, wenn ſie in einem und eben
demſelben Athem hinzuſetzen: „die Regeln un-
terdrücken das Genie!„ — Als ob ſich Genie
durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe!
Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt
geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder
Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein
gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller
Regeln in ſich. Es begreift und behält und be-
folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in
Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor-
ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig-
keit verringern können? Vernünftelt darüber
mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur,
in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen-
blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet;
und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne-
rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf
ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir-
ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen
Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück-
lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande
iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik
das Genie unterdrücken können: heißt mit an-
dern Worten behaupten, daß Beyſpiele und
Uebung eben dieſes vermögen; heißt, das Genie
nicht allein auf ſich ſelbſt, heißt es ſogar, le-

dig-
X x 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0355" n="349"/>
mit wir &#x017F;ie auch für Genies halten &#x017F;ollen. Doch<lb/>
&#x017F;ie verrathen zu &#x017F;ehr, daß &#x017F;ie nicht einen Funken<lb/>
davon in &#x017F;ich &#x017F;püren, wenn &#x017F;ie in einem und eben<lb/>
dem&#x017F;elben Athem hinzu&#x017F;etzen: &#x201E;die Regeln un-<lb/>
terdrücken das Genie!&#x201E; &#x2014; Als ob &#x017F;ich Genie<lb/>
durch etwas in der Welt unterdrücken lie&#x017F;&#x017F;e!<lb/>
Und noch dazu durch etwas, das, wie &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
ge&#x017F;tehen, aus ihm hergeleitet i&#x017F;t. Nicht jeder<lb/>
Kun&#x017F;trichter i&#x017F;t Genie: aber jedes Genie i&#x017F;t ein<lb/>
gebohrner Kun&#x017F;trichter. Es hat die Probe aller<lb/>
Regeln in &#x017F;ich. Es begreift und behält und be-<lb/>
folgt nur die, die ihm &#x017F;eine Empfindung in<lb/>
Worten ausdrücken. Und die&#x017F;e &#x017F;eine in Wor-<lb/>
ten ausgedrückte Empfindung &#x017F;ollte &#x017F;eine Thätig-<lb/>
keit verringern können? Vernünftelt darüber<lb/>
mit ihm, &#x017F;o viel ihr wollt; es ver&#x017F;teht euch nur,<lb/>
in &#x017F;o fern es eure allgemeinen Sätze den Augen-<lb/>
blick in einem einzeln Falle an&#x017F;chauend erkennet;<lb/>
und nur von die&#x017F;em einzeln Falle bleibt Erinne-<lb/>
rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf<lb/>
&#x017F;eine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir-<lb/>
ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen<lb/>
Bey&#x017F;piels, die Erinnerung einer eignen glück-<lb/>
lichen Erfahrung auf &#x017F;ie zu wirken im Stande<lb/>
i&#x017F;t. Behaupten al&#x017F;o, daß Regeln und Critik<lb/>
das Genie unterdrücken können: heißt mit an-<lb/>
dern Worten behaupten, daß Bey&#x017F;piele und<lb/>
Uebung eben die&#x017F;es vermögen; heißt, das Genie<lb/>
nicht allein auf &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, heißt es &#x017F;ogar, le-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">X x 3</fw><fw place="bottom" type="catch">dig-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[349/0355] mit wir ſie auch für Genies halten ſollen. Doch ſie verrathen zu ſehr, daß ſie nicht einen Funken davon in ſich ſpüren, wenn ſie in einem und eben demſelben Athem hinzuſetzen: „die Regeln un- terdrücken das Genie!„ — Als ob ſich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken lieſſe! Und noch dazu durch etwas, das, wie ſie ſelbſt geſtehen, aus ihm hergeleitet iſt. Nicht jeder Kunſtrichter iſt Genie: aber jedes Genie iſt ein gebohrner Kunſtrichter. Es hat die Probe aller Regeln in ſich. Es begreift und behält und be- folgt nur die, die ihm ſeine Empfindung in Worten ausdrücken. Und dieſe ſeine in Wor- ten ausgedrückte Empfindung ſollte ſeine Thätig- keit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, ſo viel ihr wollt; es verſteht euch nur, in ſo fern es eure allgemeinen Sätze den Augen- blick in einem einzeln Falle anſchauend erkennet; und nur von dieſem einzeln Falle bleibt Erinne- rung in ihm zurück, die während der Arbeit auf ſeine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wir- ken kann, als die Erinnerung eines glücklichen Beyſpiels, die Erinnerung einer eignen glück- lichen Erfahrung auf ſie zu wirken im Stande iſt. Behaupten alſo, daß Regeln und Critik das Genie unterdrücken können: heißt mit an- dern Worten behaupten, daß Beyſpiele und Uebung eben dieſes vermögen; heißt, das Genie nicht allein auf ſich ſelbſt, heißt es ſogar, le- dig- X x 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/355
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 349. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/355>, abgerufen am 06.05.2024.