Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

"lichkeit, die zur Vollendung der poetischen
"Wahrheit erfodert wird. (*)

"Ein
(*) Diese Erklärung ist der, welche Dacier von
der Stelle des Aristoteles giebt, weit vor-
zuziehen. Nach den Worten der Uebersetzung
scheinet Dacier zwar eben das zu sagen, was
Hurd sagt: que Sophocle faisoit ses Heros,
comme ils devoient etre & qu' Euripide
les faisoit comme ils etoient.
Aber er ver-
bindet im Grunde einen ganz andern Begriff
damit. Hurd verstehet unter dem Wie sie
seyn sollten
, die allgemeine abstrakte
Jdee des Geschlechts, nach welcher der Dich-
ter seine Personen mehr, als nach ihren in-
dividuellen Verschiedenheiten schildern müsse.
Dacier aber denkt sich dabey eine höhere mo-
ralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch
zu erreichen fähig sey, ob er sie gleich nur
selten erreiche; und diese, sagt er, habe So-
phokles seinen Personen gewöhnlicher Weise
beygelegt: Sophocle tachoit de rendre ses
imitations parfaites, en suivant toujours
bien plus ce qu'une belle Nature etoit ca-
pable de faire, que ce qu'elle faisoit.
Al-
lein diese höhere moralische Vollkommenheit
gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe
nicht; sie stehet dem Jndividuo zu, aber nicht
dem Geschlechte; und der Dichter, der sie
seinen Personen beylegt, schildert gerade
umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi-
des als des Sophokles. Die weitere Aus-
führung hiervon verdienet mehr als eine
Note.

„lichkeit, die zur Vollendung der poetiſchen
„Wahrheit erfodert wird. (*)

„Ein
(*) Dieſe Erklärung iſt der, welche Dacier von
der Stelle des Ariſtoteles giebt, weit vor-
zuziehen. Nach den Worten der Ueberſetzung
ſcheinet Dacier zwar eben das zu ſagen, was
Hurd ſagt: que Sophocle faiſoit ſes Heros,
comme ils devoient etre & qu’ Euripide
les faiſoit comme ils etoient.
Aber er ver-
bindet im Grunde einen ganz andern Begriff
damit. Hurd verſtehet unter dem Wie ſie
ſeyn ſollten
, die allgemeine abſtrakte
Jdee des Geſchlechts, nach welcher der Dich-
ter ſeine Perſonen mehr, als nach ihren in-
dividuellen Verſchiedenheiten ſchildern müſſe.
Dacier aber denkt ſich dabey eine höhere mo-
raliſche Vollkommenheit, wie ſie der Menſch
zu erreichen fähig ſey, ob er ſie gleich nur
ſelten erreiche; und dieſe, ſagt er, habe So-
phokles ſeinen Perſonen gewöhnlicher Weiſe
beygelegt: Sophocle tachoit de rendre ſes
imitations parfaites, en ſuivant toujours
bien plus ce qu’une belle Nature etoit ca-
pable de faire, que ce qu’elle faiſoit.
Al-
lein dieſe höhere moraliſche Vollkommenheit
gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe
nicht; ſie ſtehet dem Jndividuo zu, aber nicht
dem Geſchlechte; und der Dichter, der ſie
ſeinen Perſonen beylegt, ſchildert gerade
umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi-
des als des Sophokles. Die weitere Aus-
führung hiervon verdienet mehr als eine
Note.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0340" n="334"/>
&#x201E;lichkeit, die zur Vollendung der poeti&#x017F;chen<lb/>
&#x201E;Wahrheit erfodert wird. <note place="foot" n="(*)">Die&#x017F;e Erklärung i&#x017F;t der, welche Dacier von<lb/>
der Stelle des Ari&#x017F;toteles giebt, weit vor-<lb/>
zuziehen. Nach den Worten der Ueber&#x017F;etzung<lb/>
&#x017F;cheinet Dacier zwar eben das zu &#x017F;agen, was<lb/>
Hurd &#x017F;agt: <hi rendition="#aq">que Sophocle fai&#x017F;oit &#x017F;es Heros,<lb/>
comme ils devoient etre &amp; qu&#x2019; Euripide<lb/>
les fai&#x017F;oit comme ils etoient.</hi> Aber er ver-<lb/>
bindet im Grunde einen ganz andern Begriff<lb/>
damit. Hurd ver&#x017F;tehet unter dem <hi rendition="#g">Wie &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;ollten</hi>, die allgemeine ab&#x017F;trakte<lb/>
Jdee des Ge&#x017F;chlechts, nach welcher der Dich-<lb/>
ter &#x017F;eine Per&#x017F;onen mehr, als nach ihren in-<lb/>
dividuellen Ver&#x017F;chiedenheiten &#x017F;childern mü&#x017F;&#x017F;e.<lb/>
Dacier aber denkt &#x017F;ich dabey eine höhere mo-<lb/>
rali&#x017F;che Vollkommenheit, wie &#x017F;ie der Men&#x017F;ch<lb/>
zu erreichen fähig &#x017F;ey, ob er &#x017F;ie gleich nur<lb/>
&#x017F;elten erreiche; und die&#x017F;e, &#x017F;agt er, habe So-<lb/>
phokles &#x017F;einen Per&#x017F;onen gewöhnlicher Wei&#x017F;e<lb/>
beygelegt: <hi rendition="#aq">Sophocle tachoit de rendre &#x017F;es<lb/>
imitations parfaites, en &#x017F;uivant toujours<lb/>
bien plus ce qu&#x2019;une belle Nature etoit ca-<lb/>
pable de faire, que ce qu&#x2019;elle fai&#x017F;oit.</hi> Al-<lb/>
lein die&#x017F;e höhere morali&#x017F;che Vollkommenheit<lb/>
gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe<lb/>
nicht; &#x017F;ie &#x017F;tehet dem Jndividuo zu, aber nicht<lb/>
dem Ge&#x017F;chlechte; und der Dichter, der &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;einen Per&#x017F;onen beylegt, &#x017F;childert gerade<lb/>
umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi-<lb/>
des als des Sophokles. Die weitere Aus-<lb/>
führung hiervon verdienet mehr als eine<lb/>
Note.</note></p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">&#x201E;Ein</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[334/0340] „lichkeit, die zur Vollendung der poetiſchen „Wahrheit erfodert wird. (*) „Ein (*) Dieſe Erklärung iſt der, welche Dacier von der Stelle des Ariſtoteles giebt, weit vor- zuziehen. Nach den Worten der Ueberſetzung ſcheinet Dacier zwar eben das zu ſagen, was Hurd ſagt: que Sophocle faiſoit ſes Heros, comme ils devoient etre & qu’ Euripide les faiſoit comme ils etoient. Aber er ver- bindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd verſtehet unter dem Wie ſie ſeyn ſollten, die allgemeine abſtrakte Jdee des Geſchlechts, nach welcher der Dich- ter ſeine Perſonen mehr, als nach ihren in- dividuellen Verſchiedenheiten ſchildern müſſe. Dacier aber denkt ſich dabey eine höhere mo- raliſche Vollkommenheit, wie ſie der Menſch zu erreichen fähig ſey, ob er ſie gleich nur ſelten erreiche; und dieſe, ſagt er, habe So- phokles ſeinen Perſonen gewöhnlicher Weiſe beygelegt: Sophocle tachoit de rendre ſes imitations parfaites, en ſuivant toujours bien plus ce qu’une belle Nature etoit ca- pable de faire, que ce qu’elle faiſoit. Al- lein dieſe höhere moraliſche Vollkommenheit gehöret gerade zu jenem allgemeinen Begriffe nicht; ſie ſtehet dem Jndividuo zu, aber nicht dem Geſchlechte; und der Dichter, der ſie ſeinen Perſonen beylegt, ſchildert gerade umgekehrt, mehr in der Manier des Euripi- des als des Sophokles. Die weitere Aus- führung hiervon verdienet mehr als eine Note.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/340
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 334. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/340>, abgerufen am 07.05.2024.