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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt
sind, die Ursache, warum der tragische Dichter
seinen Personen diese Namen ertheilet. Er führt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um
uns mit den wirklichen Begegnissen dieser Män-
ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt-
niß derselben zu erneuern: sondern um uns mit
solchen Begegnissen zu unterhalten, die Män-
nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen
können und müssen. Nun ist zwar wahr, daß
wir diesen ihren Charakter aus ihren wirklichen
Begegnissen abstrahiret haben: es folgt aber
doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter
wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse;
er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natür-
licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene
wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß
sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu-
verfolgenden Umwegen und über Erdstriche her-
geflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. Jn diesem Falle wird der Poet jene er-
fundene den wirklichen schlechterdings vorzie-
hen, aber den Personen noch immer die wahren
Namen lassen. Und zwar aus einer doppelten
Ursache: einmal, weil wir schon gewohnt sind,
bey diesen Namen einen Charakter zu denken,
wie er ihn in seiner Allgemeinheit zeiget; zwey-
tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche
Begebenheiten anzuhängen scheinen, und alles,

was

gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt
ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter
ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um
uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män-
ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt-
niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit
ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män-
nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen
können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß
wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen
Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber
doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter
wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe;
er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür-
licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene
wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß
ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu-
verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her-
gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er-
fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie-
hen, aber den Perſonen noch immer die wahren
Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten
Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind,
bey dieſen Namen einen Charakter zu denken,
wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey-
tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche
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[311/0317] gulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt ſind, die Urſache, warum der tragiſche Dichter ſeinen Perſonen dieſe Namen ertheilet. Er führt einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen Begegniſſen dieſer Män- ner bekannt zu machen, nicht um das Gedächt- niß derſelben zu erneuern: ſondern um uns mit ſolchen Begegniſſen zu unterhalten, die Män- nern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können und müſſen. Nun iſt zwar wahr, daß wir dieſen ihren Charakter aus ihren wirklichen Begegniſſen abſtrahiret haben: es folgt aber doch daraus nicht, daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegniſſe zurückführen müſſe; er kann uns nicht ſelten weit kürzer, weit natür- licher auf ganz andere bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß ſie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzu- verfolgenden Umwegen und über Erdſtriche her- gefloſſen ſind, welche ihre Lauterheit verdorben haben. Jn dieſem Falle wird der Poet jene er- fundene den wirklichen ſchlechterdings vorzie- hen, aber den Perſonen noch immer die wahren Namen laſſen. Und zwar aus einer doppelten Urſache: einmal, weil wir ſchon gewohnt ſind, bey dieſen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in ſeiner Allgemeinheit zeiget; zwey- tens, weil wirklichen Namen auch wirkliche Begebenheiten anzuhängen ſcheinen, und alles, was

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/317>, abgerufen am 22.11.2024.