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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769].

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So dachte Aristoteles von dem Mitleiden,
und nur hieraus wird die wahre Ursache begreif-
lich, warum er in der Erklärung der Tragödie,
nächst dem Mitleiden, nur die einzige Furcht
nannte. Nicht als ob diese Furcht hier eine be-
sondere, von dem Mitleiden unabhängige Leiden-
schaft sey, welche bald mit bald ohne dem Mit-
leid, so wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr,
erreget werden könne; welches die Mißdeutung
des Corneille war: sondern weil, nach seiner
Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht noth-
wendig einschließt; weil nichts unser Mitleid
erregt, als was zugleich unsere Furcht erwecken
kann.

Corneille hatte seine Stücke schon alle ge-
schrieben, als er sich hinsetzte, über die Dicht-
kunst des Aristoteles zu commentiren. (*) Er
hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet:
und nach dieser Erfahrung würde er uns unstrei-
tig vortreffliche Dinge über den alten dramati-
schen Codex haben sagen können, wenn er ihn

nur
(*) Je hazarderai quelque chose sur cinquante
ans de travail pour la scene,
sagt er in sei-
ner Abhandlung über das Drama. Sein er-
stes Stück, Melite, war von 1625, und sein
letztes, Surena, von 1675; welches gerade
die funfzig Jahr ausmacht, so daß es gewiß
ist, daß er, bey den Auslegungen des Aristo-
teles, auf alle seine Stücke ein Auge haben
konnte, und hatte.

So dachte Ariſtoteles von dem Mitleiden,
und nur hieraus wird die wahre Urſache begreif-
lich, warum er in der Erklärung der Tragödie,
nächſt dem Mitleiden, nur die einzige Furcht
nannte. Nicht als ob dieſe Furcht hier eine be-
ſondere, von dem Mitleiden unabhängige Leiden-
ſchaft ſey, welche bald mit bald ohne dem Mit-
leid, ſo wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr,
erreget werden könne; welches die Mißdeutung
des Corneille war: ſondern weil, nach ſeiner
Erklärung des Mitleids, dieſes die Furcht noth-
wendig einſchließt; weil nichts unſer Mitleid
erregt, als was zugleich unſere Furcht erwecken
kann.

Corneille hatte ſeine Stücke ſchon alle ge-
ſchrieben, als er ſich hinſetzte, über die Dicht-
kunſt des Ariſtoteles zu commentiren. (*) Er
hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet:
und nach dieſer Erfahrung würde er uns unſtrei-
tig vortreffliche Dinge über den alten dramati-
ſchen Codex haben ſagen können, wenn er ihn

nur
(*) Je hazarderai quelque choſe ſur cinquante
ans de travail pour la ſcène,
ſagt er in ſei-
ner Abhandlung über das Drama. Sein er-
ſtes Stück, Melite, war von 1625, und ſein
letztes, Surena, von 1675; welches gerade
die funfzig Jahr ausmacht, ſo daß es gewiß
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[182/0188] So dachte Ariſtoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre Urſache begreif- lich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächſt dem Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob dieſe Furcht hier eine be- ſondere, von dem Mitleiden unabhängige Leiden- ſchaft ſey, welche bald mit bald ohne dem Mit- leid, ſo wie das Mitleid bald mit bald ohne ihr, erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: ſondern weil, nach ſeiner Erklärung des Mitleids, dieſes die Furcht noth- wendig einſchließt; weil nichts unſer Mitleid erregt, als was zugleich unſere Furcht erwecken kann. Corneille hatte ſeine Stücke ſchon alle ge- ſchrieben, als er ſich hinſetzte, über die Dicht- kunſt des Ariſtoteles zu commentiren. (*) Er hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieſer Erfahrung würde er uns unſtrei- tig vortreffliche Dinge über den alten dramati- ſchen Codex haben ſagen können, wenn er ihn nur (*) Je hazarderai quelque choſe ſur cinquante ans de travail pour la ſcène, ſagt er in ſei- ner Abhandlung über das Drama. Sein er- ſtes Stück, Melite, war von 1625, und ſein letztes, Surena, von 1675; welches gerade die funfzig Jahr ausmacht, ſo daß es gewiß iſt, daß er, bey den Auslegungen des Ariſto- teles, auf alle ſeine Stücke ein Auge haben konnte, und hatte.

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 182. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/188>, abgerufen am 23.04.2024.