einzige Tirade, die Herr Weiß so hätte brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Theile beym Shakespear, sind nach den großen Maaßen des historischen Schauspiels zugeschnit- ten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen Geschmacks, ungefehr wie ein weit- läuftiges Frescogemählde gegen ein Migniatur- bildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen, als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Grup- pe, die man sodann als ein eigenes Ganze aus- führen muß? Eben so würden aus einzeln Ge- danken beym Shakespear ganze Scenen, und aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müs- sen. Denn wenn man den Ermel aus dem Kleide eines Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder einen Ermel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.
Thut man aber auch dieses, so kann man we- gen der Beschuldigung des Plagiums ganz ruhig seyn. Die meisten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst verstehen, ver- rathen den Meister nicht, und wissen, daß ein Goldkorn so künstlich kann getrieben seyn, daß der Werth der Form den Werth der Materie bey weitem übersteiget.
Jch für mein Theil betauere es also wirklich, daß unserm Dichter Shakespears Richard so
spät
einzige Tirade, die Herr Weiß ſo hätte brauchen können, wie ſie dort iſt. Alle, auch die kleinſten Theile beym Shakeſpear, ſind nach den großen Maaßen des hiſtoriſchen Schauſpiels zugeſchnit- ten, und dieſes verhält ſich zu der Tragödie franzöſiſchen Geſchmacks, ungefehr wie ein weit- läuftiges Freſcogemählde gegen ein Migniatur- bildchen für einen Ring. Was kann man zu dieſem aus jenem nehmen, als etwa ein Geſicht, eine einzelne Figur, höchſtens eine kleine Grup- pe, die man ſodann als ein eigenes Ganze aus- führen muß? Eben ſo würden aus einzeln Ge- danken beym Shakeſpear ganze Scenen, und aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müſ- ſen. Denn wenn man den Ermel aus dem Kleide eines Rieſen für einen Zwerg recht nutzen will, ſo muß man ihm nicht wieder einen Ermel, ſondern einen ganzen Rock daraus machen.
Thut man aber auch dieſes, ſo kann man we- gen der Beſchuldigung des Plagiums ganz ruhig ſeyn. Die meiſten werden in dem Faden die Flocke nicht erkennen, woraus er geſponnen iſt. Die wenigen, welche die Kunſt verſtehen, ver- rathen den Meiſter nicht, und wiſſen, daß ein Goldkorn ſo künſtlich kann getrieben ſeyn, daß der Werth der Form den Werth der Materie bey weitem überſteiget.
Jch für mein Theil betauere es alſo wirklich, daß unſerm Dichter Shakeſpears Richard ſo
ſpät
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0172"n="166"/>
einzige Tirade, die Herr Weiß ſo hätte brauchen<lb/>
können, wie ſie dort iſt. Alle, auch die kleinſten<lb/>
Theile beym Shakeſpear, ſind nach den großen<lb/>
Maaßen des hiſtoriſchen Schauſpiels zugeſchnit-<lb/>
ten, und dieſes verhält ſich zu der Tragödie<lb/>
franzöſiſchen Geſchmacks, ungefehr wie ein weit-<lb/>
läuftiges Freſcogemählde gegen ein Migniatur-<lb/>
bildchen für einen Ring. Was kann man zu<lb/>
dieſem aus jenem nehmen, als etwa ein Geſicht,<lb/>
eine einzelne Figur, höchſtens eine kleine Grup-<lb/>
pe, die man ſodann als ein eigenes Ganze aus-<lb/>
führen muß? Eben ſo würden aus einzeln Ge-<lb/>
danken beym Shakeſpear ganze Scenen, und<lb/>
aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müſ-<lb/>ſen. Denn wenn man den Ermel aus dem<lb/>
Kleide eines Rieſen für einen Zwerg recht nutzen<lb/>
will, ſo muß man ihm nicht wieder einen Ermel,<lb/>ſondern einen ganzen Rock daraus machen.</p><lb/><p>Thut man aber auch dieſes, ſo kann man we-<lb/>
gen der Beſchuldigung des Plagiums ganz ruhig<lb/>ſeyn. Die meiſten werden in dem Faden die<lb/>
Flocke nicht erkennen, woraus er geſponnen iſt.<lb/>
Die wenigen, welche die Kunſt verſtehen, ver-<lb/>
rathen den Meiſter nicht, und wiſſen, daß ein<lb/>
Goldkorn ſo künſtlich kann getrieben ſeyn, daß<lb/>
der Werth der Form den Werth der Materie bey<lb/>
weitem überſteiget.</p><lb/><p>Jch für mein Theil betauere es alſo wirklich,<lb/>
daß unſerm Dichter Shakeſpears Richard ſo<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſpät</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[166/0172]
einzige Tirade, die Herr Weiß ſo hätte brauchen
können, wie ſie dort iſt. Alle, auch die kleinſten
Theile beym Shakeſpear, ſind nach den großen
Maaßen des hiſtoriſchen Schauſpiels zugeſchnit-
ten, und dieſes verhält ſich zu der Tragödie
franzöſiſchen Geſchmacks, ungefehr wie ein weit-
läuftiges Freſcogemählde gegen ein Migniatur-
bildchen für einen Ring. Was kann man zu
dieſem aus jenem nehmen, als etwa ein Geſicht,
eine einzelne Figur, höchſtens eine kleine Grup-
pe, die man ſodann als ein eigenes Ganze aus-
führen muß? Eben ſo würden aus einzeln Ge-
danken beym Shakeſpear ganze Scenen, und
aus einzeln Scenen ganze Aufzüge werden müſ-
ſen. Denn wenn man den Ermel aus dem
Kleide eines Rieſen für einen Zwerg recht nutzen
will, ſo muß man ihm nicht wieder einen Ermel,
ſondern einen ganzen Rock daraus machen.
Thut man aber auch dieſes, ſo kann man we-
gen der Beſchuldigung des Plagiums ganz ruhig
ſeyn. Die meiſten werden in dem Faden die
Flocke nicht erkennen, woraus er geſponnen iſt.
Die wenigen, welche die Kunſt verſtehen, ver-
rathen den Meiſter nicht, und wiſſen, daß ein
Goldkorn ſo künſtlich kann getrieben ſeyn, daß
der Werth der Form den Werth der Materie bey
weitem überſteiget.
Jch für mein Theil betauere es alſo wirklich,
daß unſerm Dichter Shakeſpears Richard ſo
ſpät
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 166. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/172>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.