Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anführe. Jst es wahr, daß uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Ge- meinen und Erhabnen, des Possirlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen, zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope mehr gethan, als er sich vornahm; er hat nicht blos die Fehler seiner Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen, daß wenigstens dieser Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler seyn, was eine Nachah- mung der Natur ist.
"Man tadelt, sagt einer von unsern neuesten Scribenten, "an Shakespear, -- demjenigen un- "ter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, "vom Könige bis zum Bettler, und von Julius "Cäsar bis zu Jak Fallstaff, am besten gekannt, "und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui- "tion durch und durch gesehen hat, -- daß seine "Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehler- "haften unregelmäßigen und schlecht ausgesonne- "nen Plan haben; daß komisches und tragisches "darinn auf die seltsamste Art durch einander "geworfen ist, und oft eben dieselbe Person, die "uns durch die rührende Sprache der Natur, "Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen "Augenblicken darauf uns durch irgend einen "seltsamen Einfall oder barokischen Ausdruck
"ihrer
Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge- meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen, daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah- mung der Natur iſt.
„Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten Scribenten, „an Shakeſpear, — demjenigen un- „ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen, „vom Könige bis zum Bettler, und von Julius „Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt, „und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui- „tion durch und durch geſehen hat, — daß ſeine „Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler- „haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne- „nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches „darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander „geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die „uns durch die rührende Sprache der Natur, „Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen „Augenblicken darauf uns durch irgend einen „ſeltſamen Einfall oder barokiſchen Ausdruck
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Die letzten Worte ſind es, weswegen ich dieſe
Stelle anführe. Jſt es wahr, daß uns die
Natur ſelbſt, in dieſer Vermengung des Ge-
meinen und Erhabnen, des Poſſirlichen und
Ernſthaften, des Luſtigen und Traurigen, zum
Muſter dienet? Es ſcheinet ſo. Aber wenn es
wahr iſt, ſo hat Lope mehr gethan, als er ſich
vornahm; er hat nicht blos die Fehler ſeiner
Bühne beſchöniget; er hat eigentlich erwieſen,
daß wenigſtens dieſer Fehler keiner iſt; denn
nichts kann ein Fehler ſeyn, was eine Nachah-
mung der Natur iſt.
„Man tadelt, ſagt einer von unſern neueſten
Scribenten, „an Shakeſpear, — demjenigen un-
„ter allen Dichtern ſeit Homer, der die Menſchen,
„vom Könige bis zum Bettler, und von Julius
„Cäſar bis zu Jak Fallſtaff, am beſten gekannt,
„und mit einer Art von unbegreiflicher Jntui-
„tion durch und durch geſehen hat, — daß ſeine
„Stücke keinen, oder doch nur einen ſehr fehler-
„haften unregelmäßigen und ſchlecht ausgeſonne-
„nen Plan haben; daß komiſches und tragiſches
„darinn auf die ſeltſamſte Art durch einander
„geworfen iſt, und oft eben dieſelbe Perſon, die
„uns durch die rührende Sprache der Natur,
„Thränen in die Augen gelockt hat, in wenigen
„Augenblicken darauf uns durch irgend einen
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 2. Hamburg u. a., [1769], S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie02_1767/138>, abgerufen am 24.11.2024.
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