Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

von zu machen. Der Saame, sie zu glauben,
liegt in uns allen, und in denen am häufigsten,
für die er vornehmlich dichtet. Es kömmt nur
auf seine Kunst an, diesen Saamen zum Käu-
men zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe,
den Gründen für ihre Wirklichkeit in der Ge-
schwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er
diese in seiner Gewalt, so mögen wir in gemei-
nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater
müssen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter ist Shakespear, und Shake-
spear fast einzig und allein. Vor seinem Ge-
spenste im Hamlet richten sich die Haare zu Ber-
ge, sie mögen ein gläubiges oder ungläubiges
Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that
gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu be-
rufen; es macht ihn und seinen Geist des Ni-
nus -- lächerlich.

Shakespears Gespenst kömmt wirklich aus
jener Welt; so dünkt uns. Denn es kömmt zu
der feyerlichen Stunde, in der schaudernden
Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller
der düstern, geheimnißvollen Nebenbegriffe,
wenn und mit welchen wir, von der Amme an,
Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt
sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht ein-
mal zum Popanze gut, Kinder damit zu schrecken;

es
L 3

von zu machen. Der Saame, ſie zu glauben,
liegt in uns allen, und in denen am haͤufigſten,
fuͤr die er vornehmlich dichtet. Es koͤmmt nur
auf ſeine Kunſt an, dieſen Saamen zum Kaͤu-
men zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe,
den Gruͤnden fuͤr ihre Wirklichkeit in der Ge-
ſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er
dieſe in ſeiner Gewalt, ſo moͤgen wir in gemei-
nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater
muͤſſen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter iſt Shakeſpear, und Shake-
ſpear faſt einzig und allein. Vor ſeinem Ge-
ſpenſte im Hamlet richten ſich die Haare zu Ber-
ge, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges
Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that
gar nicht wohl, ſich auf dieſes Geſpenſt zu be-
rufen; es macht ihn und ſeinen Geiſt des Ni-
nus — laͤcherlich.

Shakeſpears Geſpenſt koͤmmt wirklich aus
jener Welt; ſo duͤnkt uns. Denn es koͤmmt zu
der feyerlichen Stunde, in der ſchaudernden
Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller
der duͤſtern, geheimnißvollen Nebenbegriffe,
wenn und mit welchen wir, von der Amme an,
Geſpenſter zu erwarten und zu denken gewohnt
ſind. Aber Voltairens Geiſt iſt auch nicht ein-
mal zum Popanze gut, Kinder damit zu ſchrecken;

es
L 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0099" n="85"/>
von zu machen. Der Saame, &#x017F;ie zu glauben,<lb/>
liegt in uns allen, und in denen am ha&#x0364;ufig&#x017F;ten,<lb/>
fu&#x0364;r die er vornehmlich dichtet. Es ko&#x0364;mmt nur<lb/>
auf &#x017F;eine Kun&#x017F;t an, die&#x017F;en Saamen zum Ka&#x0364;u-<lb/>
men zu bringen; nur auf gewi&#x017F;&#x017F;e Handgriffe,<lb/>
den Gru&#x0364;nden fu&#x0364;r ihre Wirklichkeit in der Ge-<lb/>
&#x017F;chwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er<lb/>
die&#x017F;e in &#x017F;einer Gewalt, &#x017F;o mo&#x0364;gen wir in gemei-<lb/>
nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en wir glauben, was Er will.</p><lb/>
        <p>So ein Dichter i&#x017F;t Shake&#x017F;pear, und Shake-<lb/>
&#x017F;pear fa&#x017F;t einzig und allein. Vor &#x017F;einem Ge-<lb/>
&#x017F;pen&#x017F;te im Hamlet richten &#x017F;ich die Haare zu Ber-<lb/>
ge, &#x017F;ie mo&#x0364;gen ein gla&#x0364;ubiges oder ungla&#x0364;ubiges<lb/>
Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that<lb/>
gar nicht wohl, &#x017F;ich auf die&#x017F;es Ge&#x017F;pen&#x017F;t zu be-<lb/>
rufen; es macht ihn und &#x017F;einen Gei&#x017F;t des Ni-<lb/>
nus &#x2014; la&#x0364;cherlich.</p><lb/>
        <p>Shake&#x017F;pears Ge&#x017F;pen&#x017F;t ko&#x0364;mmt wirklich aus<lb/>
jener Welt; &#x017F;o du&#x0364;nkt uns. Denn es ko&#x0364;mmt zu<lb/>
der feyerlichen Stunde, in der &#x017F;chaudernden<lb/>
Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller<lb/>
der du&#x0364;&#x017F;tern, geheimnißvollen Nebenbegriffe,<lb/>
wenn und mit welchen wir, von der Amme an,<lb/>
Ge&#x017F;pen&#x017F;ter zu erwarten und zu denken gewohnt<lb/>
&#x017F;ind. Aber Voltairens Gei&#x017F;t i&#x017F;t auch nicht ein-<lb/>
mal zum Popanze gut, Kinder damit zu &#x017F;chrecken;<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">L 3</fw><fw place="bottom" type="catch">es</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[85/0099] von zu machen. Der Saame, ſie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haͤufigſten, fuͤr die er vornehmlich dichtet. Es koͤmmt nur auf ſeine Kunſt an, dieſen Saamen zum Kaͤu- men zu bringen; nur auf gewiſſe Handgriffe, den Gruͤnden fuͤr ihre Wirklichkeit in der Ge- ſchwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er dieſe in ſeiner Gewalt, ſo moͤgen wir in gemei- nem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muͤſſen wir glauben, was Er will. So ein Dichter iſt Shakeſpear, und Shake- ſpear faſt einzig und allein. Vor ſeinem Ge- ſpenſte im Hamlet richten ſich die Haare zu Ber- ge, ſie moͤgen ein glaͤubiges oder unglaͤubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire that gar nicht wohl, ſich auf dieſes Geſpenſt zu be- rufen; es macht ihn und ſeinen Geiſt des Ni- nus — laͤcherlich. Shakeſpears Geſpenſt koͤmmt wirklich aus jener Welt; ſo duͤnkt uns. Denn es koͤmmt zu der feyerlichen Stunde, in der ſchaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duͤſtern, geheimnißvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Geſpenſter zu erwarten und zu denken gewohnt ſind. Aber Voltairens Geiſt iſt auch nicht ein- mal zum Popanze gut, Kinder damit zu ſchrecken; es L 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/99
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/99>, abgerufen am 02.05.2024.