Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

blicken, dem die Natur so heilige Rechte über-
tragen hat. Dem Rousseau muß man diesen
ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse
ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da
keine Gründe bey Julien anschlagen wollen; da
ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch
die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur
noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur
durch die plötzliche Ueberraschung der unerwar-
testen Begegnung erschüttert, und in einer Art
von Betäubung umgelenket werden. Die Ge-
liebte sollte sich in die Tochter, verführerische
Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln;
da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese
Veränderung abzugewinnen, so mußte er sich
entschliessen, ihr sie abzunöthigen, oder, wenn
man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise
konnten wir es Julien in der Folge vergeben,
daß sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten
Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese
Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da
es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der
endlich nachgiebt: hätte Herr Heufeld die Wen-
dung nicht ein wenig lindern sollen, durch die
Rousseau blos das Befremdliche jener Aufopfe-
rung rechtfertigen, und das Ungewöhnliche der-
selben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in
Sicherheit setzen wollte? -- Doch Kritik, und
kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan

hätte,
J 3

blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber-
tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen
auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe
iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da
keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da
ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch
die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur
noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur
durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar-
teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art
von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge-
liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche
Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln;
da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe
Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich
entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn
man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe
konnten wir es Julien in der Folge vergeben,
daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten
Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe
Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da
es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der
endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen-
dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die
Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe-
rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der-
ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in
Sicherheit ſetzen wollte? — Doch Kritik, und
kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan

haͤtte,
J 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0083" n="69"/>
blicken, dem die Natur &#x017F;o heilige Rechte u&#x0364;ber-<lb/>
tragen hat. Dem Rou&#x017F;&#x017F;eau muß man die&#x017F;en<lb/>
au&#x017F;&#x017F;erordentlichen Hebel verzeihen; die Ma&#x017F;&#x017F;e<lb/>
i&#x017F;t zu groß, die er in Bewegung &#x017F;etzen &#x017F;oll. Da<lb/>
keine Gru&#x0364;nde bey Julien an&#x017F;chlagen wollen; da<lb/>
ihr Herz in der Verfa&#x017F;&#x017F;ung i&#x017F;t, daß es &#x017F;ich durch<lb/>
die a&#x0364;ußer&#x017F;te Strenge in &#x017F;einem Ent&#x017F;chlu&#x017F;&#x017F;e nur<lb/>
noch mehr befe&#x017F;tigen wu&#x0364;rde: &#x017F;o konnte &#x017F;ie nur<lb/>
durch die plo&#x0364;tzliche Ueberra&#x017F;chung der unerwar-<lb/>
te&#x017F;ten Begegnung er&#x017F;chu&#x0364;ttert, und in einer Art<lb/>
von Beta&#x0364;ubung umgelenket werden. Die Ge-<lb/>
liebte &#x017F;ollte &#x017F;ich in die Tochter, verfu&#x0364;hreri&#x017F;che<lb/>
Za&#x0364;rtlichkeit in blinden Gehor&#x017F;am verwandeln;<lb/>
da Rou&#x017F;&#x017F;eau kein Mittel &#x017F;ahe, der Natur die&#x017F;e<lb/>
Vera&#x0364;nderung abzugewinnen, &#x017F;o mußte er &#x017F;ich<lb/>
ent&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en, ihr &#x017F;ie abzuno&#x0364;thigen, oder, wenn<lb/>
man will, abzu&#x017F;tehlen. Auf keine andere Wei&#x017F;e<lb/>
konnten wir es Julien in der Folge vergeben,<lb/>
daß &#x017F;ie den inbru&#x0364;n&#x017F;tig&#x017F;ten Liebhaber dem ka&#x0364;lte&#x017F;ten<lb/>
Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da die&#x017F;e<lb/>
Aufopferung in der Komo&#x0364;die nicht erfolget; da<lb/>
es nicht die Tochter, &#x017F;ondern der Vater i&#x017F;t, der<lb/>
endlich nachgiebt: ha&#x0364;tte Herr Heufeld die Wen-<lb/>
dung nicht ein wenig lindern &#x017F;ollen, durch die<lb/>
Rou&#x017F;&#x017F;eau blos das Befremdliche jener Aufopfe-<lb/>
rung rechtfertigen, und das Ungewo&#x0364;hnliche der-<lb/>
&#x017F;elben vor dem Vorwurfe des Unnatu&#x0364;rlichen in<lb/>
Sicherheit &#x017F;etzen wollte? &#x2014; Doch Kritik, und<lb/>
kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">J 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ha&#x0364;tte,</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[69/0083] blicken, dem die Natur ſo heilige Rechte uͤber- tragen hat. Dem Rouſſeau muß man dieſen auſſerordentlichen Hebel verzeihen; die Maſſe iſt zu groß, die er in Bewegung ſetzen ſoll. Da keine Gruͤnde bey Julien anſchlagen wollen; da ihr Herz in der Verfaſſung iſt, daß es ſich durch die aͤußerſte Strenge in ſeinem Entſchluſſe nur noch mehr befeſtigen wuͤrde: ſo konnte ſie nur durch die ploͤtzliche Ueberraſchung der unerwar- teſten Begegnung erſchuͤttert, und in einer Art von Betaͤubung umgelenket werden. Die Ge- liebte ſollte ſich in die Tochter, verfuͤhreriſche Zaͤrtlichkeit in blinden Gehorſam verwandeln; da Rouſſeau kein Mittel ſahe, der Natur dieſe Veraͤnderung abzugewinnen, ſo mußte er ſich entſchlieſſen, ihr ſie abzunoͤthigen, oder, wenn man will, abzuſtehlen. Auf keine andere Weiſe konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß ſie den inbruͤnſtigſten Liebhaber dem kaͤlteſten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da dieſe Aufopferung in der Komoͤdie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, ſondern der Vater iſt, der endlich nachgiebt: haͤtte Herr Heufeld die Wen- dung nicht ein wenig lindern ſollen, durch die Rouſſeau blos das Befremdliche jener Aufopfe- rung rechtfertigen, und das Ungewoͤhnliche der- ſelben vor dem Vorwurfe des Unnatuͤrlichen in Sicherheit ſetzen wollte? — Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das gethan haͤtte, J 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/83
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/83>, abgerufen am 02.05.2024.