Hamburgische Dramaturgie. Acht und vierzigstes Stück.
Den 13ten October, 1767.
Es ist wahr, unsere Ueberraschung ist grös- ser, wenn wir es nicht eher mit völliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Ueberraschung! Und was braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen, so viel er will; wir werden unser Theil schon davon zu nehmen wissen, wenn wir, was sie ganz unvermuthet treffen muß, auch noch so lange vorausgesehen haben. Ja, unser Antheil wird um so lebhafter und stärker seyn, je länger und zuverläßiger wir es vorausgesehen haben.
Ich will, über diesen Punkt, den besten franzö- sischen Kunstrichter für mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stücken, sagt Diderot, (*) ist
das
(*) In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater S. 327. d. Uebs.
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Hamburgiſche Dramaturgie. Acht und vierzigſtes Stuͤck.
Den 13ten October, 1767.
Es iſt wahr, unſere Ueberraſchung iſt groͤſ- ſer, wenn wir es nicht eher mit voͤlliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth iſt, als bis es Merope ſelbſt erfaͤhrt. Aber das armſelige Vergnuͤgen einer Ueberraſchung! Und was braucht der Dichter uns zu uͤberraſchen? Er uͤberraſche ſeine Perſonen, ſo viel er will; wir werden unſer Theil ſchon davon zu nehmen wiſſen, wenn wir, was ſie ganz unvermuthet treffen muß, auch noch ſo lange vorausgeſehen haben. Ja, unſer Antheil wird um ſo lebhafter und ſtaͤrker ſeyn, je laͤnger und zuverlaͤßiger wir es vorausgeſehen haben.
Ich will, uͤber dieſen Punkt, den beſten franzoͤ- ſiſchen Kunſtrichter fuͤr mich ſprechen laſſen. 〟In den verwickelten Stuͤcken, ſagt Diderot, (*) iſt
das
(*) In ſeiner dramatiſchen Dichtkunſt, hinter dem Hausvater S. 327. d. Uebſ.
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Hamburgiſche
Dramaturgie.
Acht und vierzigſtes Stuͤck.
Den 13ten October, 1767.
Es iſt wahr, unſere Ueberraſchung iſt groͤſ-
ſer, wenn wir es nicht eher mit voͤlliger
Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth
iſt, als bis es Merope ſelbſt erfaͤhrt. Aber das
armſelige Vergnuͤgen einer Ueberraſchung! Und
was braucht der Dichter uns zu uͤberraſchen?
Er uͤberraſche ſeine Perſonen, ſo viel er will;
wir werden unſer Theil ſchon davon zu nehmen
wiſſen, wenn wir, was ſie ganz unvermuthet
treffen muß, auch noch ſo lange vorausgeſehen
haben. Ja, unſer Antheil wird um ſo lebhafter
und ſtaͤrker ſeyn, je laͤnger und zuverlaͤßiger wir
es vorausgeſehen haben.
Ich will, uͤber dieſen Punkt, den beſten franzoͤ-
ſiſchen Kunſtrichter fuͤr mich ſprechen laſſen. 〟In
den verwickelten Stuͤcken, ſagt Diderot, (*) iſt
das
(*) In ſeiner dramatiſchen Dichtkunſt, hinter
dem Hausvater S. 327. d. Uebſ.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. [377]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/391>, abgerufen am 22.11.2024.
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