Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

dungskraft der Zuschauer mit ganz andern Din-
gen beschäftiget ist: dieses Nestorische, aber am
unrechten Orte Nestorische, Geschwätz, kann
durch keine Verschiedenheit des Geschmacks un-
ter verschiedenen cultivirten Völkern, entschul-
diget werden; hier muß der Geschmack überall
der nehmliche seyn, und der Italiener hat nicht
seinen eignen, sondern hat gar keinen Geschmack,
wenn er nicht eben sowohl dabey gähnet und dar-
über unwillig wird, als der Franzose. "Sie
"haben,
sagt Voltaire zu dem Marquis, "in
"Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Ver-
"gleichung des Virgils:
Qualis populea moerens Philomela sub
umbra
Amissos queritur foetus
-- -- --

"übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich
"mir so eine Freyheit nehmen wollte, so würde
"man mich damit in die Epopee verweisen. Denn
"Sie glauben nicht, wie streng der Herr ist,
"dem wir zu gefallen suchen müssen; ich meine
"unser Publikum. Dieses verlangt, daß in
"der Tragödie überall der Held, und nirgends
"der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bey
"kritischen Vorfällen, in Rathsversammlungen,
"bey einer heftigen Leidenschaft, bey einer drin-
"genden Gefahr, kein König, kein Minister
"poetische Vergleichungen zu machen pflege."

Aber verlangt denn dieses Publikum etwas un-

rech-

dungskraft der Zuſchauer mit ganz andern Din-
gen beſchaͤftiget iſt: dieſes Neſtoriſche, aber am
unrechten Orte Neſtoriſche, Geſchwaͤtz, kann
durch keine Verſchiedenheit des Geſchmacks un-
ter verſchiedenen cultivirten Voͤlkern, entſchul-
diget werden; hier muß der Geſchmack uͤberall
der nehmliche ſeyn, und der Italiener hat nicht
ſeinen eignen, ſondern hat gar keinen Geſchmack,
wenn er nicht eben ſowohl dabey gaͤhnet und dar-
uͤber unwillig wird, als der Franzoſe. 〟Sie
〟haben,
ſagt Voltaire zu dem Marquis, 〟in
〟Ihrer Tragoͤdie jene ſchoͤne und ruͤhrende Ver-
〟gleichung des Virgils:
Qualis populea mœrens Philomela ſub
umbra
Amiſſos queritur fœtus
— — —

〟uͤberſetzen und anbringen duͤrfen. Wenn ich
〟mir ſo eine Freyheit nehmen wollte, ſo wuͤrde
〟man mich damit in die Epopee verweiſen. Denn
〟Sie glauben nicht, wie ſtreng der Herr iſt,
〟dem wir zu gefallen ſuchen muͤſſen; ich meine
〟unſer Publikum. Dieſes verlangt, daß in
〟der Tragoͤdie uͤberall der Held, und nirgends
〟der Dichter ſprechen ſoll, und meinet, daß bey
〟kritiſchen Vorfaͤllen, in Rathsverſammlungen,
〟bey einer heftigen Leidenſchaft, bey einer drin-
〟genden Gefahr, kein Koͤnig, kein Miniſter
〟poetiſche Vergleichungen zu machen pflege.〟

Aber verlangt denn dieſes Publikum etwas un-

rech-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0340" n="326"/>
dungskraft der Zu&#x017F;chauer mit ganz andern Din-<lb/>
gen be&#x017F;cha&#x0364;ftiget i&#x017F;t: die&#x017F;es Ne&#x017F;tori&#x017F;che, aber am<lb/>
unrechten Orte Ne&#x017F;tori&#x017F;che, Ge&#x017F;chwa&#x0364;tz, kann<lb/>
durch keine Ver&#x017F;chiedenheit des Ge&#x017F;chmacks un-<lb/>
ter ver&#x017F;chiedenen cultivirten Vo&#x0364;lkern, ent&#x017F;chul-<lb/>
diget werden; hier muß der Ge&#x017F;chmack u&#x0364;berall<lb/>
der nehmliche &#x017F;eyn, und der Italiener hat nicht<lb/>
&#x017F;einen eignen, &#x017F;ondern hat gar keinen Ge&#x017F;chmack,<lb/>
wenn er nicht eben &#x017F;owohl dabey ga&#x0364;hnet und dar-<lb/>
u&#x0364;ber unwillig wird, als der Franzo&#x017F;e. <cit><quote>&#x301F;Sie<lb/>
&#x301F;haben,</quote></cit> &#x017F;agt Voltaire zu dem Marquis, <cit><quote>&#x301F;in<lb/>
&#x301F;Ihrer Trago&#x0364;die jene &#x017F;cho&#x0364;ne und ru&#x0364;hrende Ver-<lb/>
&#x301F;gleichung des Virgils:<lb/><cit><quote><hi rendition="#aq">Qualis populea m&#x0153;rens Philomela &#x017F;ub<lb/>
umbra<lb/>
Ami&#x017F;&#x017F;os queritur f&#x0153;tus</hi> &#x2014; &#x2014; &#x2014;</quote></cit><lb/>
&#x301F;u&#x0364;ber&#x017F;etzen und anbringen du&#x0364;rfen. Wenn ich<lb/>
&#x301F;mir &#x017F;o eine Freyheit nehmen wollte, &#x017F;o wu&#x0364;rde<lb/>
&#x301F;man mich damit in die Epopee verwei&#x017F;en. Denn<lb/>
&#x301F;Sie glauben nicht, wie &#x017F;treng der Herr i&#x017F;t,<lb/>
&#x301F;dem wir zu gefallen &#x017F;uchen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en; ich meine<lb/>
&#x301F;un&#x017F;er Publikum. Die&#x017F;es verlangt, daß in<lb/>
&#x301F;der Trago&#x0364;die u&#x0364;berall der Held, und nirgends<lb/>
&#x301F;der Dichter &#x017F;prechen &#x017F;oll, und meinet, daß bey<lb/>
&#x301F;kriti&#x017F;chen Vorfa&#x0364;llen, in Rathsver&#x017F;ammlungen,<lb/>
&#x301F;bey einer heftigen Leiden&#x017F;chaft, bey einer drin-<lb/>
&#x301F;genden Gefahr, kein Ko&#x0364;nig, kein Mini&#x017F;ter<lb/>
&#x301F;poeti&#x017F;che Vergleichungen zu machen pflege.&#x301F;</quote></cit><lb/>
Aber verlangt denn die&#x017F;es Publikum etwas un-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">rech-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[326/0340] dungskraft der Zuſchauer mit ganz andern Din- gen beſchaͤftiget iſt: dieſes Neſtoriſche, aber am unrechten Orte Neſtoriſche, Geſchwaͤtz, kann durch keine Verſchiedenheit des Geſchmacks un- ter verſchiedenen cultivirten Voͤlkern, entſchul- diget werden; hier muß der Geſchmack uͤberall der nehmliche ſeyn, und der Italiener hat nicht ſeinen eignen, ſondern hat gar keinen Geſchmack, wenn er nicht eben ſowohl dabey gaͤhnet und dar- uͤber unwillig wird, als der Franzoſe. 〟Sie 〟haben, ſagt Voltaire zu dem Marquis, 〟in 〟Ihrer Tragoͤdie jene ſchoͤne und ruͤhrende Ver- 〟gleichung des Virgils: Qualis populea mœrens Philomela ſub umbra Amiſſos queritur fœtus — — — 〟uͤberſetzen und anbringen duͤrfen. Wenn ich 〟mir ſo eine Freyheit nehmen wollte, ſo wuͤrde 〟man mich damit in die Epopee verweiſen. Denn 〟Sie glauben nicht, wie ſtreng der Herr iſt, 〟dem wir zu gefallen ſuchen muͤſſen; ich meine 〟unſer Publikum. Dieſes verlangt, daß in 〟der Tragoͤdie uͤberall der Held, und nirgends 〟der Dichter ſprechen ſoll, und meinet, daß bey 〟kritiſchen Vorfaͤllen, in Rathsverſammlungen, 〟bey einer heftigen Leidenſchaft, bey einer drin- 〟genden Gefahr, kein Koͤnig, kein Miniſter 〟poetiſche Vergleichungen zu machen pflege.〟 Aber verlangt denn dieſes Publikum etwas un- rech-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/340
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/340>, abgerufen am 19.05.2024.