Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

Sie ward ins Französische, ins Englische, ins
Deutsche übersetzt; und man hatte vor, sie mit
allen diesen Uebersetzungen zugleich drucken zu
lassen. Ins Französische war sie bereits zwey-
mal übersetzt, als der Herr von Voltaire sich
nochmals darüber machen wollte, um sie auch
wirklich auf die französische Bühne zu bringen.
Doch er fand bald, daß dieses durch eine eigent-
liche Uebersetzung nicht geschehen könnte, wovon
er die Ursachen in dem Schreiben an den Mar-
quis, welches er nachher seiner eignen Merope
vorsetzte, umständlich angiebt.

"Der Ton, sagt er, sey in der italienischen
Merope viel zu naif und bürgerlich, und der Ge-
schmack des französischen Parterrs viel zu fein,
viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple
Natur gefallen könne. Es wolle die Natur nicht
anders als unter gewissen Zügen der Kunst se-
hen; und diese Züge müßten zu Paris weit an-
ders als zu Verona seyn."

Das ganze Schrei-
ben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt;
Maffei hat nirgends gefehlt; alle seine Nach-
läßigkeiten und Mängel werden auf die Rech-
nung seines Nationalgeschmacks geschrieben; es
sind wohl noch gar Schönheiten, aber leider nur
Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann
nicht höflicher kritisiren! Aber die verzweifelte
Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird sie gar
bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten

da-

Sie ward ins Franzoͤſiſche, ins Engliſche, ins
Deutſche uͤberſetzt; und man hatte vor, ſie mit
allen dieſen Ueberſetzungen zugleich drucken zu
laſſen. Ins Franzoͤſiſche war ſie bereits zwey-
mal uͤberſetzt, als der Herr von Voltaire ſich
nochmals daruͤber machen wollte, um ſie auch
wirklich auf die franzoͤſiſche Buͤhne zu bringen.
Doch er fand bald, daß dieſes durch eine eigent-
liche Ueberſetzung nicht geſchehen koͤnnte, wovon
er die Urſachen in dem Schreiben an den Mar-
quis, welches er nachher ſeiner eignen Merope
vorſetzte, umſtaͤndlich angiebt.

〟Der Ton, ſagt er, ſey in der italieniſchen
Merope viel zu naif und buͤrgerlich, und der Ge-
ſchmack des franzoͤſiſchen Parterrs viel zu fein,
viel zu verzaͤrtelt, als daß ihm die bloße ſimple
Natur gefallen koͤnne. Es wolle die Natur nicht
anders als unter gewiſſen Zuͤgen der Kunſt ſe-
hen; und dieſe Zuͤge muͤßten zu Paris weit an-
ders als zu Verona ſeyn.〟

Das ganze Schrei-
ben iſt mit der aͤußerſten Politeſſe abgefaßt;
Maffei hat nirgends gefehlt; alle ſeine Nach-
laͤßigkeiten und Maͤngel werden auf die Rech-
nung ſeines Nationalgeſchmacks geſchrieben; es
ſind wohl noch gar Schoͤnheiten, aber leider nur
Schoͤnheiten fuͤr Italien. Gewiß, man kann
nicht hoͤflicher kritiſiren! Aber die verzweifelte
Hoͤflichkeit! Auch einem Franzoſen wird ſie gar
bald zu Laſt, wenn ſeine Eitelkeit im geringſten

da-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0336" n="322"/>
Sie ward ins Franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che, ins Engli&#x017F;che, ins<lb/>
Deut&#x017F;che u&#x0364;ber&#x017F;etzt; und man hatte vor, &#x017F;ie mit<lb/>
allen die&#x017F;en Ueber&#x017F;etzungen zugleich drucken zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en. Ins Franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che war &#x017F;ie bereits zwey-<lb/>
mal u&#x0364;ber&#x017F;etzt, als der Herr von Voltaire &#x017F;ich<lb/>
nochmals daru&#x0364;ber machen wollte, um &#x017F;ie auch<lb/>
wirklich auf die franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;che Bu&#x0364;hne zu bringen.<lb/>
Doch er fand bald, daß die&#x017F;es durch eine eigent-<lb/>
liche Ueber&#x017F;etzung nicht ge&#x017F;chehen ko&#x0364;nnte, wovon<lb/>
er die Ur&#x017F;achen in dem Schreiben an den Mar-<lb/>
quis, welches er nachher &#x017F;einer eignen Merope<lb/>
vor&#x017F;etzte, um&#x017F;ta&#x0364;ndlich angiebt.</p><lb/>
        <cit>
          <quote>&#x301F;Der Ton, &#x017F;agt er, &#x017F;ey in der italieni&#x017F;chen<lb/>
Merope viel zu naif und bu&#x0364;rgerlich, und der Ge-<lb/>
&#x017F;chmack des franzo&#x0364;&#x017F;i&#x017F;chen Parterrs viel zu fein,<lb/>
viel zu verza&#x0364;rtelt, als daß ihm die bloße &#x017F;imple<lb/>
Natur gefallen ko&#x0364;nne. Es wolle die Natur nicht<lb/>
anders als unter gewi&#x017F;&#x017F;en Zu&#x0364;gen der Kun&#x017F;t &#x017F;e-<lb/>
hen; und die&#x017F;e Zu&#x0364;ge mu&#x0364;ßten zu Paris weit an-<lb/>
ders als zu Verona &#x017F;eyn.&#x301F;</quote>
        </cit>
        <p>Das ganze Schrei-<lb/>
ben i&#x017F;t mit der a&#x0364;ußer&#x017F;ten Polite&#x017F;&#x017F;e abgefaßt;<lb/>
Maffei hat nirgends gefehlt; alle &#x017F;eine Nach-<lb/>
la&#x0364;ßigkeiten und Ma&#x0364;ngel werden auf die Rech-<lb/>
nung &#x017F;eines Nationalge&#x017F;chmacks ge&#x017F;chrieben; es<lb/>
&#x017F;ind wohl noch gar Scho&#x0364;nheiten, aber leider nur<lb/>
Scho&#x0364;nheiten fu&#x0364;r Italien. Gewiß, man kann<lb/>
nicht ho&#x0364;flicher kriti&#x017F;iren! Aber die verzweifelte<lb/>
Ho&#x0364;flichkeit! Auch einem Franzo&#x017F;en wird &#x017F;ie gar<lb/>
bald zu La&#x017F;t, wenn &#x017F;eine Eitelkeit im gering&#x017F;ten<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">da-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0336] Sie ward ins Franzoͤſiſche, ins Engliſche, ins Deutſche uͤberſetzt; und man hatte vor, ſie mit allen dieſen Ueberſetzungen zugleich drucken zu laſſen. Ins Franzoͤſiſche war ſie bereits zwey- mal uͤberſetzt, als der Herr von Voltaire ſich nochmals daruͤber machen wollte, um ſie auch wirklich auf die franzoͤſiſche Buͤhne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieſes durch eine eigent- liche Ueberſetzung nicht geſchehen koͤnnte, wovon er die Urſachen in dem Schreiben an den Mar- quis, welches er nachher ſeiner eignen Merope vorſetzte, umſtaͤndlich angiebt. 〟Der Ton, ſagt er, ſey in der italieniſchen Merope viel zu naif und buͤrgerlich, und der Ge- ſchmack des franzoͤſiſchen Parterrs viel zu fein, viel zu verzaͤrtelt, als daß ihm die bloße ſimple Natur gefallen koͤnne. Es wolle die Natur nicht anders als unter gewiſſen Zuͤgen der Kunſt ſe- hen; und dieſe Zuͤge muͤßten zu Paris weit an- ders als zu Verona ſeyn.〟 Das ganze Schrei- ben iſt mit der aͤußerſten Politeſſe abgefaßt; Maffei hat nirgends gefehlt; alle ſeine Nach- laͤßigkeiten und Maͤngel werden auf die Rech- nung ſeines Nationalgeſchmacks geſchrieben; es ſind wohl noch gar Schoͤnheiten, aber leider nur Schoͤnheiten fuͤr Italien. Gewiß, man kann nicht hoͤflicher kritiſiren! Aber die verzweifelte Hoͤflichkeit! Auch einem Franzoſen wird ſie gar bald zu Laſt, wenn ſeine Eitelkeit im geringſten da-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/336
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/336>, abgerufen am 22.11.2024.