ander ab, und thue endlich so dreist als sicher den Ausspruch für diesen Augenblick bey dem Euripides. Gleichwohl ist es nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beyspiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beyspiel von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beyspiele in der Iphigenia, wo die Schwester den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu vergehen.
Das zweyte Beyspiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die- ses Dichtees gewesen: so wäre es doch sonder- bar, daß Aristoteles alle drey Beyspiele von ei- ner solchen glücklichen Erkennung gerade bey demjenigen Dichter gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente. Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht ausschließt; und obschon in der Iphigenia die glückliche Erken- nung auf die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glücklich sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un- glückliche Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der Manier schlos- sen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten von allen tragischen Dichtern ver- diente?
Mit
ander ab, und thue endlich ſo dreiſt als ſicher den Ausſpruch fuͤr dieſen Augenblick bey dem Euripides. Gleichwohl iſt es nur eine einzelne Art von intereſſanten Augenblicken, wovon er ihn zum Beyſpiele anfuͤhret; gleichwohl iſt er nicht einmal das einzige Beyſpiel von dieſer Art. Denn Ariſtoteles fand aͤhnliche Beyſpiele in der Iphigenia, wo die Schweſter den Bruder, und in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet, eben da die erſtern im Begriffe ſind, ſich gegen die andern zu vergehen.
Das zweyte Beyſpiel von der Iphigenia iſt wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die- ſes Dichtees geweſen: ſo waͤre es doch ſonder- bar, daß Ariſtoteles alle drey Beyſpiele von ei- ner ſolchen gluͤcklichen Erkennung gerade bey demjenigen Dichter gefunden haͤtte, der ſich der ungluͤcklichen Peripetie am meiſten bediente. Warum zwar ſonderbar? Wir haben ja geſehen, daß die eine die andere nicht ausſchließt; und obſchon in der Iphigenia die gluͤckliche Erken- nung auf die ungluͤckliche Peripetie folgt, und das Stuͤck uͤberhaupt alſo gluͤcklich ſich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un- gluͤckliche Peripetie auf die gluͤckliche Erkennung folgte, und ſie alſo voͤllig in der Manier ſchloſ- ſen, durch die ſich Euripides den Charakter des tragiſchſten von allen tragiſchen Dichtern ver- diente?
Mit
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[308/0322]
ander ab, und thue endlich ſo dreiſt als ſicher
den Ausſpruch fuͤr dieſen Augenblick bey dem
Euripides. Gleichwohl iſt es nur eine einzelne
Art von intereſſanten Augenblicken, wovon er
ihn zum Beyſpiele anfuͤhret; gleichwohl iſt er
nicht einmal das einzige Beyſpiel von dieſer Art.
Denn Ariſtoteles fand aͤhnliche Beyſpiele in der
Iphigenia, wo die Schweſter den Bruder, und
in der Helle, wo der Sohn die Mutter erkennet,
eben da die erſtern im Begriffe ſind, ſich gegen
die andern zu vergehen.
Das zweyte Beyſpiel von der Iphigenia iſt
wirklich aus dem Euripides; und wenn, wie
Dacier vermuthet, auch die Helle ein Werk die-
ſes Dichtees geweſen: ſo waͤre es doch ſonder-
bar, daß Ariſtoteles alle drey Beyſpiele von ei-
ner ſolchen gluͤcklichen Erkennung gerade bey
demjenigen Dichter gefunden haͤtte, der ſich der
ungluͤcklichen Peripetie am meiſten bediente.
Warum zwar ſonderbar? Wir haben ja geſehen,
daß die eine die andere nicht ausſchließt; und
obſchon in der Iphigenia die gluͤckliche Erken-
nung auf die ungluͤckliche Peripetie folgt, und
das Stuͤck uͤberhaupt alſo gluͤcklich ſich endet:
wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine un-
gluͤckliche Peripetie auf die gluͤckliche Erkennung
folgte, und ſie alſo voͤllig in der Manier ſchloſ-
ſen, durch die ſich Euripides den Charakter des
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/322>, abgerufen am 22.11.2024.
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