Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

men und vollzogen wird, und der Thäter die
Person, an der er sie vollzogen, zu spät kennen
lernet. Die vierte: wenn die unwissend unter-
nommene That nicht zur Vollziehung gelangt,
indem die darein verwickelten Personen einander
noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen vier
Klassen giebt Aristoteles der letztern den Vor-
zug; und da er die Handlung der Merope, in
dem Kresphont, davon zum Beyspiele anführet:
so haben Tournemine, und andere, dieses so
angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieses
Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten
Gattung tragischer Fabeln zu seyn erkläre.

Indeß sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß
eine gute tragische Fabel sich nicht glücklich, son-
dern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses
beides bey einander bestehen? Sie soll sich un-
glücklich enden, und gleichwohl läuft die Bege-
benheit, welche er nach jener Klassification allen
andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glück-
lich ab. Widerspricht sich nicht also der große
Kunstrichter offenbar?

Victorins, sagt Dacier, sey der einzige, welcher
diese Schwierigkeit gesehen; aber da er nicht ver-
standen, was Aristoteles eigentlich in dem ganzen
vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht
einmal den geringsten Versuch gewagt, sie zu heben.
Aristoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von
der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf
wie mancherley Art der Dichter tragische Begeben-

heiten

men und vollzogen wird, und der Thaͤter die
Perſon, an der er ſie vollzogen, zu ſpaͤt kennen
lernet. Die vierte: wenn die unwiſſend unter-
nommene That nicht zur Vollziehung gelangt,
indem die darein verwickelten Perſonen einander
noch zur rechten Zeit erkennen. Von dieſen vier
Klaſſen giebt Ariſtoteles der letztern den Vor-
zug; und da er die Handlung der Merope, in
dem Kreſphont, davon zum Beyſpiele anfuͤhret:
ſo haben Tournemine, und andere, dieſes ſo
angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieſes
Trauerſpiels uͤberhaupt von der vollkommenſten
Gattung tragiſcher Fabeln zu ſeyn erklaͤre.

Indeß ſagt doch Ariſtoteles kurz zuvor, daß
eine gute tragiſche Fabel ſich nicht gluͤcklich, ſon-
dern ungluͤcklich enden muͤſſe. Wie kann dieſes
beides bey einander beſtehen? Sie ſoll ſich un-
gluͤcklich enden, und gleichwohl laͤuft die Bege-
benheit, welche er nach jener Klaſſification allen
andern tragiſchen Begebenheiten vorziehet, gluͤck-
lich ab. Widerſpricht ſich nicht alſo der große
Kunſtrichter offenbar?

Victorins, ſagt Dacier, ſey der einzige, welcher
dieſe Schwierigkeit geſehen; aber da er nicht ver-
ſtanden, was Ariſtoteles eigentlich in dem ganzen
vierzehnten Kapitel gewollt: ſo habe er auch nicht
einmal den geringſten Verſuch gewagt, ſie zu heben.
Ariſtoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von
der Fabel uͤberhaupt, ſondern wolle nur lehren, auf
wie mancherley Art der Dichter tragiſche Begeben-

heiten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0308" n="294"/>
men und vollzogen wird, und der Tha&#x0364;ter die<lb/>
Per&#x017F;on, an der er &#x017F;ie vollzogen, zu &#x017F;pa&#x0364;t kennen<lb/>
lernet. Die vierte: wenn die unwi&#x017F;&#x017F;end unter-<lb/>
nommene That nicht zur Vollziehung gelangt,<lb/>
indem die darein verwickelten Per&#x017F;onen einander<lb/>
noch zur rechten Zeit erkennen. Von die&#x017F;en vier<lb/>
Kla&#x017F;&#x017F;en giebt Ari&#x017F;toteles der letztern den Vor-<lb/>
zug; und da er die Handlung der Merope, in<lb/>
dem Kre&#x017F;phont, davon zum Bey&#x017F;piele anfu&#x0364;hret:<lb/>
&#x017F;o haben Tournemine, und andere, die&#x017F;es &#x017F;o<lb/>
angenommen, als ob er dadurch die Fabel die&#x017F;es<lb/>
Trauer&#x017F;piels u&#x0364;berhaupt von der vollkommen&#x017F;ten<lb/>
Gattung tragi&#x017F;cher Fabeln zu &#x017F;eyn erkla&#x0364;re.</p><lb/>
        <p>Indeß &#x017F;agt doch Ari&#x017F;toteles kurz zuvor, daß<lb/>
eine gute tragi&#x017F;che Fabel &#x017F;ich nicht glu&#x0364;cklich, &#x017F;on-<lb/>
dern unglu&#x0364;cklich enden mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e. Wie kann die&#x017F;es<lb/>
beides bey einander be&#x017F;tehen? Sie &#x017F;oll &#x017F;ich un-<lb/>
glu&#x0364;cklich enden, und gleichwohl la&#x0364;uft die Bege-<lb/>
benheit, welche er nach jener Kla&#x017F;&#x017F;ification allen<lb/>
andern tragi&#x017F;chen Begebenheiten vorziehet, glu&#x0364;ck-<lb/>
lich ab. Wider&#x017F;pricht &#x017F;ich nicht al&#x017F;o der große<lb/>
Kun&#x017F;trichter offenbar?</p><lb/>
        <p>Victorins, &#x017F;agt Dacier, &#x017F;ey der einzige, welcher<lb/>
die&#x017F;e Schwierigkeit ge&#x017F;ehen; aber da er nicht ver-<lb/>
&#x017F;tanden, was Ari&#x017F;toteles eigentlich in dem ganzen<lb/>
vierzehnten Kapitel gewollt: &#x017F;o habe er auch nicht<lb/>
einmal den gering&#x017F;ten Ver&#x017F;uch gewagt, &#x017F;ie zu heben.<lb/>
Ari&#x017F;toteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von<lb/>
der Fabel u&#x0364;berhaupt, &#x017F;ondern wolle nur lehren, auf<lb/>
wie mancherley Art der Dichter tragi&#x017F;che Begeben-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">heiten</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[294/0308] men und vollzogen wird, und der Thaͤter die Perſon, an der er ſie vollzogen, zu ſpaͤt kennen lernet. Die vierte: wenn die unwiſſend unter- nommene That nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein verwickelten Perſonen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von dieſen vier Klaſſen giebt Ariſtoteles der letztern den Vor- zug; und da er die Handlung der Merope, in dem Kreſphont, davon zum Beyſpiele anfuͤhret: ſo haben Tournemine, und andere, dieſes ſo angenommen, als ob er dadurch die Fabel dieſes Trauerſpiels uͤberhaupt von der vollkommenſten Gattung tragiſcher Fabeln zu ſeyn erklaͤre. Indeß ſagt doch Ariſtoteles kurz zuvor, daß eine gute tragiſche Fabel ſich nicht gluͤcklich, ſon- dern ungluͤcklich enden muͤſſe. Wie kann dieſes beides bey einander beſtehen? Sie ſoll ſich un- gluͤcklich enden, und gleichwohl laͤuft die Bege- benheit, welche er nach jener Klaſſification allen andern tragiſchen Begebenheiten vorziehet, gluͤck- lich ab. Widerſpricht ſich nicht alſo der große Kunſtrichter offenbar? Victorins, ſagt Dacier, ſey der einzige, welcher dieſe Schwierigkeit geſehen; aber da er nicht ver- ſtanden, was Ariſtoteles eigentlich in dem ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: ſo habe er auch nicht einmal den geringſten Verſuch gewagt, ſie zu heben. Ariſtoteles, meinet Dacier, rede dort gar nicht von der Fabel uͤberhaupt, ſondern wolle nur lehren, auf wie mancherley Art der Dichter tragiſche Begeben- heiten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/308
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/308>, abgerufen am 19.05.2024.