gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer- de. Alle Begebenheiten, sagt er, müssen ent- weder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tödtet, so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der That sonst weiter einiges Mitleid, als das all- gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz- lichen und Verderblichen überhaupt, verbunden ist. Und so ist es auch bey gleichgültigen Per- sonen. Folglich müssen die tragischen Begeben- heiten sich unter Freunden eräugnen; ein Bru- der muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter tödten, oder tödten wollen, oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln, oder mißhan- deln wollen. Dieses aber kann entweder mit, oder ohne Wissen und Vorbedacht geschehen; und da die That entweder vollführt oder nicht vollführt werden muß: so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten, welche den Absich- ten des Trauerspiels mehr oder weniger entspre- chen. Die erste: wenn die That wissentlich, mit völliger Kenntniß der Person, gegen welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn sie wissentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die That unwissend, ohne Kenntniß des Gegenstandes, unternom-
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gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer- de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent- weder unter Freunden, oder unter Feinden, oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen. Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all- gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz- lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per- ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben- heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru- der muß den Bruder, ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan- deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit, oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen; und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich- ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre- chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich, mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie wiſſentlich unternommen, und wirklich vollzogen wird. Die dritte: wenn die That unwiſſend, ohne Kenntniß des Gegenſtandes, unternom-
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gebenheiten Schrecken und Mitleid erreget wer-
de. Alle Begebenheiten, ſagt er, muͤſſen ent-
weder unter Freunden, oder unter Feinden,
oder unter gleichguͤltigen Perſonen vorgehen.
Wenn ein Feind ſeinen Feind toͤdtet, ſo erweckt
weder der Anſchlag noch die Ausfuͤhrung der
That ſonſt weiter einiges Mitleid, als das all-
gemeine, welches mit dem Anblicke des Schmerz-
lichen und Verderblichen uͤberhaupt, verbunden
iſt. Und ſo iſt es auch bey gleichguͤltigen Per-
ſonen. Folglich muͤſſen die tragiſchen Begeben-
heiten ſich unter Freunden eraͤugnen; ein Bru-
der muß den Bruder, ein Sohn den Vater,
eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter
toͤdten, oder toͤdten wollen, oder ſonſt auf eine
empfindliche Weiſe mißhandeln, oder mißhan-
deln wollen. Dieſes aber kann entweder mit,
oder ohne Wiſſen und Vorbedacht geſchehen;
und da die That entweder vollfuͤhrt oder nicht
vollfuͤhrt werden muß: ſo entſtehen daraus vier
Klaſſen von Begebenheiten, welche den Abſich-
ten des Trauerſpiels mehr oder weniger entſpre-
chen. Die erſte: wenn die That wiſſentlich,
mit voͤlliger Kenntniß der Perſon, gegen welche
ſie vollzogen werden ſoll, unternommen, aber
nicht vollzogen wird. Die zweyte: wenn ſie
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 293. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/307>, abgerufen am 25.11.2024.
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