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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

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wärmern Theilnehmung: allein mit der Anlage
und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbin-
det es weitere und größere Absichten; die Absicht
uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu
lassen haben; die Absicht uns mit den eigentli-
chen Merkmahlen des Guten und Bösen, des
Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen;
die Absicht uns jenes in allen seinen Verbindun-
gen und Folgen als schön und als glücklich selbst
im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und
unglücklich selbst im Glücke, zu zeigen; die Ab-
sicht, bey Vorwürfen, wo keine unmittelbare
Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung
für uns Statt hat, wenigstens unsere Begeh-
rungs- und Verabscheuungskräfte mit solchen
Gegenständen zu beschäftigen, die es zu seyn
verdienen, und diese Gegenstände jederzeit in ihr
wahres Licht zu stellen, damit uns kein falscher
Tag verführt, was wir begehren sollten zu ver-
abscheuen, und was wir verabscheuen sollten zu
begehren.

Was ist nun von diesen allen in dem Charakter des
Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich
schon gesagt habe: Nichts. Aber von manchem ist ge-
rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir
verachten sollten, wovon uns das eine Eckel und das
andere Unwille eigentlich erregen müßte, ein stum-
pfer Wollüstling, eine abgefäumte Buhlerinn, wer-
den uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden
Farben geschildert, daß es mich nicht wundern sollte,
wenn mancher Ehemann sich daraus berechtiget zu seyn

glaubte,

waͤrmern Theilnehmung: allein mit der Anlage
und Ausbildung ſeiner Hauptcharaktere verbin-
det es weitere und groͤßere Abſichten; die Abſicht
uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu
laſſen haben; die Abſicht uns mit den eigentli-
chen Merkmahlen des Guten und Boͤſen, des
Anſtaͤndigen und Laͤcherlichen bekannt zu machen;
die Abſicht uns jenes in allen ſeinen Verbindun-
gen und Folgen als ſchoͤn und als gluͤcklich ſelbſt
im Ungluͤcke, dieſes hingegen als haͤßlich und
ungluͤcklich ſelbſt im Gluͤcke, zu zeigen; die Ab-
ſicht, bey Vorwuͤrfen, wo keine unmittelbare
Nacheiferung, keine unmittelbare Abſchreckung
fuͤr uns Statt hat, wenigſtens unſere Begeh-
rungs- und Verabſcheuungskraͤfte mit ſolchen
Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, die es zu ſeyn
verdienen, und dieſe Gegenſtaͤnde jederzeit in ihr
wahres Licht zu ſtellen, damit uns kein falſcher
Tag verfuͤhrt, was wir begehren ſollten zu ver-
abſcheuen, und was wir verabſcheuen ſollten zu
begehren.

Was iſt nun von dieſen allen in dem Charakter des
Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich
ſchon geſagt habe: Nichts. Aber von manchem iſt ge-
rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir
verachten ſollten, wovon uns das eine Eckel und das
andere Unwille eigentlich erregen muͤßte, ein ſtum-
pfer Wolluͤſtling, eine abgefaͤumte Buhlerinn, wer-
den uns mit ſo verfuͤhreriſchen Zuͤgen, mit ſo lachenden
Farben geſchildert, daß es mich nicht wundern ſollte,
wenn mancher Ehemann ſich daraus berechtiget zu ſeyn

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[271/0285] waͤrmern Theilnehmung: allein mit der Anlage und Ausbildung ſeiner Hauptcharaktere verbin- det es weitere und groͤßere Abſichten; die Abſicht uns zu unterrichten, was wir zu thun oder zu laſſen haben; die Abſicht uns mit den eigentli- chen Merkmahlen des Guten und Boͤſen, des Anſtaͤndigen und Laͤcherlichen bekannt zu machen; die Abſicht uns jenes in allen ſeinen Verbindun- gen und Folgen als ſchoͤn und als gluͤcklich ſelbſt im Ungluͤcke, dieſes hingegen als haͤßlich und ungluͤcklich ſelbſt im Gluͤcke, zu zeigen; die Ab- ſicht, bey Vorwuͤrfen, wo keine unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abſchreckung fuͤr uns Statt hat, wenigſtens unſere Begeh- rungs- und Verabſcheuungskraͤfte mit ſolchen Gegenſtaͤnden zu beſchaͤftigen, die es zu ſeyn verdienen, und dieſe Gegenſtaͤnde jederzeit in ihr wahres Licht zu ſtellen, damit uns kein falſcher Tag verfuͤhrt, was wir begehren ſollten zu ver- abſcheuen, und was wir verabſcheuen ſollten zu begehren. Was iſt nun von dieſen allen in dem Charakter des Solimanns, in dem Charakter der Roxelane? Wie ich ſchon geſagt habe: Nichts. Aber von manchem iſt ge- rade das Gegentheil darinn; ein Paar Leute, die wir verachten ſollten, wovon uns das eine Eckel und das andere Unwille eigentlich erregen muͤßte, ein ſtum- pfer Wolluͤſtling, eine abgefaͤumte Buhlerinn, wer- den uns mit ſo verfuͤhreriſchen Zuͤgen, mit ſo lachenden Farben geſchildert, daß es mich nicht wundern ſollte, wenn mancher Ehemann ſich daraus berechtiget zu ſeyn glaubte,

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Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/285>, abgerufen am 23.11.2024.