deln. Aber die Geschichte sagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieses ist eben so gräßlich als ausserordentlich. Es giebt höchstens drey Scenen, und da es von allen nähern Um- ständen entblößt ist, drey unwahrscheinliche Scenen. -- Was thut also der Poet?
So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrschein- lichkeit oder die magere Kürze der größere Man- gel seines Stückes scheinen.
Ist er in dem erstern Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht seyn, eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel- cher jene unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen. Unzufrieden, ihre Möglichkeit blos auf die historische Glaub- würdigkeit zu gründen, wird er suchen, die Cha- raktere seiner Personen so anzulegen; wird er su- chen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen, so nothwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen, die Leidenschaften nach eines jedem Charakter so genau abzumessen; wird er suchen, diese Leiden- schaften durch so allmäliche Stuffen durchzu- führen: daß wir überall nichts als den natür- lichsten, ordentlichsten Verlauf wahrnehmen; daß wir bey jedem Schritte, den er seine Perso- nen thun läßt, bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenschaft,
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deln. Aber die Geſchichte ſagt ihm weiter nichts, als das bloße Factum, und dieſes iſt eben ſo graͤßlich als auſſerordentlich. Es giebt hoͤchſtens drey Scenen, und da es von allen naͤhern Um- ſtaͤnden entbloͤßt iſt, drey unwahrſcheinliche Scenen. — Was thut alſo der Poet?
So wie er dieſen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die Unwahrſchein- lichkeit oder die magere Kuͤrze der groͤßere Man- gel ſeines Stuͤckes ſcheinen.
Iſt er in dem erſtern Falle, ſo wird er vor allen Dingen bedacht ſeyn, eine Reihe von Urſachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel- cher jene unwahrſcheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geſchehen muͤſſen. Unzufrieden, ihre Moͤglichkeit blos auf die hiſtoriſche Glaub- wuͤrdigkeit zu gruͤnden, wird er ſuchen, die Cha- raktere ſeiner Perſonen ſo anzulegen; wird er ſu- chen, die Vorfaͤlle, welche dieſe Charaktere in Handlung ſetzen, ſo nothwendig einen aus dem andern entſpringen zu laſſen; wird er ſuchen, die Leidenſchaften nach eines jedem Charakter ſo genau abzumeſſen; wird er ſuchen, dieſe Leiden- ſchaften durch ſo allmaͤliche Stuffen durchzu- fuͤhren: daß wir uͤberall nichts als den natuͤr- lichſten, ordentlichſten Verlauf wahrnehmen; daß wir bey jedem Schritte, den er ſeine Perſo- nen thun laͤßt, bekennen muͤſſen, wir wuͤrden ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenſchaft,
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[251/0265]
deln. Aber die Geſchichte ſagt ihm weiter nichts,
als das bloße Factum, und dieſes iſt eben ſo
graͤßlich als auſſerordentlich. Es giebt hoͤchſtens
drey Scenen, und da es von allen naͤhern Um-
ſtaͤnden entbloͤßt iſt, drey unwahrſcheinliche
Scenen. — Was thut alſo der Poet?
So wie er dieſen Namen mehr oder weniger
verdient, wird ihm entweder die Unwahrſchein-
lichkeit oder die magere Kuͤrze der groͤßere Man-
gel ſeines Stuͤckes ſcheinen.
Iſt er in dem erſtern Falle, ſo wird er vor
allen Dingen bedacht ſeyn, eine Reihe von
Urſachen und Wirkungen zu erfinden, nach wel-
cher jene unwahrſcheinliche Verbrechen nicht
wohl anders, als geſchehen muͤſſen. Unzufrieden,
ihre Moͤglichkeit blos auf die hiſtoriſche Glaub-
wuͤrdigkeit zu gruͤnden, wird er ſuchen, die Cha-
raktere ſeiner Perſonen ſo anzulegen; wird er ſu-
chen, die Vorfaͤlle, welche dieſe Charaktere in
Handlung ſetzen, ſo nothwendig einen aus dem
andern entſpringen zu laſſen; wird er ſuchen,
die Leidenſchaften nach eines jedem Charakter ſo
genau abzumeſſen; wird er ſuchen, dieſe Leiden-
ſchaften durch ſo allmaͤliche Stuffen durchzu-
fuͤhren: daß wir uͤberall nichts als den natuͤr-
lichſten, ordentlichſten Verlauf wahrnehmen;
daß wir bey jedem Schritte, den er ſeine Perſo-
nen thun laͤßt, bekennen muͤſſen, wir wuͤrden
ihn, in dem nehmlichen Grade der Leidenſchaft,
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/265>, abgerufen am 22.11.2024.
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