die dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, hält sich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß sie zugleich geschehen. Diese mit einander zu verbinden, ihre Faden so durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befrem- dung in die andere gestürzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der bestän- digen Durchkreutzung solcher Fäden von ganz verschiednen Farben, entstehet denn eine Contex- tur, die in der Kunst eben das ist, was die We- berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht sagen kann, ob er blau oder roth, grün oder gelb ist; der beydes ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz für Kin- der.
Nun urtheile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser Beurtheilung weiter nichts, als die An- wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver- wicklung.
Cleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus Eifersucht?
dachte
die dem Genie allein vorgeſparet bleiben ſollten, haͤlt ſich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts mit einander gemein haben, als daß ſie zugleich geſchehen. Dieſe mit einander zu verbinden, ihre Faden ſo durch einander zu flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem andern verlieren, aus einer Befrem- dung in die andere geſtuͤrzt werden: das kann er, der Witz; und nur das. Aus der beſtaͤn- digen Durchkreutzung ſolcher Faͤden von ganz verſchiednen Farben, entſtehet denn eine Contex- tur, die in der Kunſt eben das iſt, was die We- berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem man nicht ſagen kann, ob er blau oder roth, gruͤn oder gelb iſt; der beydes iſt, der von dieſer Seite ſo, von der andern anders erſcheinet; ein Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz fuͤr Kin- der.
Nun urtheile man, ob der große Corneille ſeinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieſer Beurtheilung weiter nichts, als die An- wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver- wicklung.
Cleopatra bringt, in der Geſchichte, ihren Gemahl aus Eiferſucht um. Aus Eiferſucht?
dachte
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die dem Genie allein vorgeſparet bleiben ſollten,
haͤlt ſich bey Begebenheiten auf, die weiter nichts
mit einander gemein haben, als daß ſie zugleich
geſchehen. Dieſe mit einander zu verbinden,
ihre Faden ſo durch einander zu flechten und zu
verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen
unter dem andern verlieren, aus einer Befrem-
dung in die andere geſtuͤrzt werden: das kann
er, der Witz; und nur das. Aus der beſtaͤn-
digen Durchkreutzung ſolcher Faͤden von ganz
verſchiednen Farben, entſtehet denn eine Contex-
tur, die in der Kunſt eben das iſt, was die We-
berey Changeant nennet: ein Stoff, von dem
man nicht ſagen kann, ob er blau oder roth,
gruͤn oder gelb iſt; der beydes iſt, der von dieſer
Seite ſo, von der andern anders erſcheinet; ein
Spielwerk der Mode, ein Gauckelputz fuͤr Kin-
der.
Nun urtheile man, ob der große Corneille
ſeinen Stoff mehr als ein Genie, oder als ein
witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu
dieſer Beurtheilung weiter nichts, als die An-
wendung eines Satzes, den niemand in Zweifel
zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz, Ver-
wicklung.
Cleopatra bringt, in der Geſchichte, ihren
Gemahl aus Eiferſucht um. Aus Eiferſucht?
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/250>, abgerufen am 22.11.2024.
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