Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769].

Bild:
<< vorherige Seite

nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm
seine Verbrechen zu offenbaren? Fällt Ilus nicht
gleichsam vom Himmel? Ist die Gemüthsände-
rung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis
auf den Augenblick, da er den Antenor ersticht,
nimmt er an den Verbrechen seines Herrn auf
die entschloßenste Weise Theil; und wenn er ein-
mal Reue zu empfinden geschienen, so hatte er
sie doch sogleich wieder unterdrückt. Welche
geringfügige Ursachen giebt hiernächst der Dich-
ter nicht manchmal den wichtigsten Dingen! So
muß Polidor, wenn er aus der Schlacht kömmt,
und sich wiederum in dem Grabmahle verbergen
will, der Zelmire den Rücken zukehren, und
der Dichter muß uns sorgfältig diesen kleinen
Umstand einschärfen. Denn wenn Polidor an-
ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Gesicht,
anstatt den Rücken zuwendete: so würde sie ihn
erkennen, und die folgende Scene, wo diese
zärtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen
Henkern überliefert, diese so verstechende, auf
alle Zuschauer so großen Eindruck machende
Scene, fiele weg. Wäre es gleichwohl nicht
weit natürlicher gewesen, wenn Polidor, indem
er wieder in das Grabmahl flüchtet, die Zelmire
bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur
ein Wink gegeben hätte? Freylich wäre es so
natürlicher gewesen, als daß die ganzen letzten
Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polidor

geht,

nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm
ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht
gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde-
rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis
auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht,
nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf
die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein-
mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er
ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche
geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich-
ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So
muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt,
und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen
will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und
der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen
Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an-
ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht,
anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn
erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe
zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen
Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf
alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende
Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht
weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem
er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire
bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur
ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es ſo
natuͤrlicher geweſen, als daß die ganzen letzten
Akte ſich nunmehr auf die Art, wie Polidor

geht,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p>
          <cit>
            <quote><pb facs="#f0162" n="148"/>
nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm<lb/>
&#x017F;eine Verbrechen zu offenbaren? Fa&#x0364;llt Ilus nicht<lb/>
gleich&#x017F;am vom Himmel? I&#x017F;t die Gemu&#x0364;thsa&#x0364;nde-<lb/>
rung des Rhamnes nicht viel zu &#x017F;chleunig? Bis<lb/>
auf den Augenblick, da er den Antenor er&#x017F;ticht,<lb/>
nimmt er an den Verbrechen &#x017F;eines Herrn auf<lb/>
die ent&#x017F;chloßen&#x017F;te Wei&#x017F;e Theil; und wenn er ein-<lb/>
mal Reue zu empfinden ge&#x017F;chienen, &#x017F;o hatte er<lb/>
&#x017F;ie doch &#x017F;ogleich wieder unterdru&#x0364;ckt. Welche<lb/>
geringfu&#x0364;gige Ur&#x017F;achen giebt hierna&#x0364;ch&#x017F;t der Dich-<lb/>
ter nicht manchmal den wichtig&#x017F;ten Dingen! So<lb/>
muß Polidor, wenn er aus der Schlacht ko&#x0364;mmt,<lb/>
und &#x017F;ich wiederum in dem Grabmahle verbergen<lb/>
will, der Zelmire den Ru&#x0364;cken zukehren, und<lb/>
der Dichter muß uns &#x017F;orgfa&#x0364;ltig die&#x017F;en kleinen<lb/>
Um&#x017F;tand ein&#x017F;cha&#x0364;rfen. Denn wenn Polidor an-<lb/>
ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Ge&#x017F;icht,<lb/>
an&#x017F;tatt den Ru&#x0364;cken zuwendete: &#x017F;o wu&#x0364;rde &#x017F;ie ihn<lb/>
erkennen, und die folgende Scene, wo die&#x017F;e<lb/>
za&#x0364;rtliche Tochter unwi&#x017F;&#x017F;end ihren Vater &#x017F;einen<lb/>
Henkern u&#x0364;berliefert, die&#x017F;e &#x017F;o ver&#x017F;techende, auf<lb/>
alle Zu&#x017F;chauer &#x017F;o großen Eindruck machende<lb/>
Scene, fiele weg. Wa&#x0364;re es gleichwohl nicht<lb/>
weit natu&#x0364;rlicher gewe&#x017F;en, wenn Polidor, indem<lb/>
er wieder in das Grabmahl flu&#x0364;chtet, die Zelmire<lb/>
bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur<lb/>
ein Wink gegeben ha&#x0364;tte? Freylich wa&#x0364;re es &#x017F;o<lb/>
natu&#x0364;rlicher gewe&#x017F;en, als daß die ganzen letzten<lb/>
Akte &#x017F;ich nunmehr auf die Art, wie Polidor<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">geht,</fw><lb/></quote>
          </cit>
        </p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0162] nes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm ſeine Verbrechen zu offenbaren? Faͤllt Ilus nicht gleichſam vom Himmel? Iſt die Gemuͤthsaͤnde- rung des Rhamnes nicht viel zu ſchleunig? Bis auf den Augenblick, da er den Antenor erſticht, nimmt er an den Verbrechen ſeines Herrn auf die entſchloßenſte Weiſe Theil; und wenn er ein- mal Reue zu empfinden geſchienen, ſo hatte er ſie doch ſogleich wieder unterdruͤckt. Welche geringfuͤgige Urſachen giebt hiernaͤchſt der Dich- ter nicht manchmal den wichtigſten Dingen! So muß Polidor, wenn er aus der Schlacht koͤmmt, und ſich wiederum in dem Grabmahle verbergen will, der Zelmire den Ruͤcken zukehren, und der Dichter muß uns ſorgfaͤltig dieſen kleinen Umſtand einſchaͤrfen. Denn wenn Polidor an- ders ginge, wenn er der Prinzeßin das Geſicht, anſtatt den Ruͤcken zuwendete: ſo wuͤrde ſie ihn erkennen, und die folgende Scene, wo dieſe zaͤrtliche Tochter unwiſſend ihren Vater ſeinen Henkern uͤberliefert, dieſe ſo verſtechende, auf alle Zuſchauer ſo großen Eindruck machende Scene, fiele weg. Waͤre es gleichwohl nicht weit natuͤrlicher geweſen, wenn Polidor, indem er wieder in das Grabmahl fluͤchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugeruffen, oder auch nur ein Wink gegeben haͤtte? Freylich waͤre es ſo natuͤrlicher geweſen, als daß die ganzen letzten Akte ſich nunmehr auf die Art, wie Polidor geht,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/162
Zitationshilfe: [Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/162>, abgerufen am 22.11.2024.