men, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sey, das Andenken großer Männer zu erhalten; dafür ist die Geschichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder jener einzelne Mensch gethan hat, son- dern was ein jeder Mensch von einem gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen thun werde. Die Absicht der Tragödie ist weit philosophischer, als die Absicht der Geschichte; und es heißt sie von ihrer wahren Würde herab- setzen, wenn man sie zu einem bloßen Panegyri- kus berühmter Männer macht, oder sie gar den Nationalstolz zu nähren mißbraucht.
Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran- zösischen Kunstrichters gegen die Zelmire des Du Belloy, ist wichtiger. Er tadelt, daß sie fast nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun- derbarer Zufälle sey, die in den engen Raum von vier und zwanzig Stunden zusammenge- preßt, aller Illusion unfähig würden. Eine seltsam ausgesparte Situation über die andere! ein Theaterstreich über den andern! Was ge- schieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so dren- gen, können schwerlich alle vorbereitet genug seyn. Wo uns so vieles überrascht, wird uns leicht manches mehr befremden, als überraschen. "Warum muß sich z. E. der Tyrann dem Rham-
nes
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men, daß es eine Beſtimmung des Theaters mit ſey, das Andenken großer Maͤnner zu erhalten; dafuͤr iſt die Geſchichte, aber nicht das Theater. Auf dem Theater ſollen wir nicht lernen, was dieſer oder jener einzelne Menſch gethan hat, ſon- dern was ein jeder Menſch von einem gewiſſen Charakter unter gewiſſen gegebenen Umſtaͤnden thun werde. Die Abſicht der Tragoͤdie iſt weit philoſophiſcher, als die Abſicht der Geſchichte; und es heißt ſie von ihrer wahren Wuͤrde herab- ſetzen, wenn man ſie zu einem bloßen Panegyri- kus beruͤhmter Maͤnner macht, oder ſie gar den Nationalſtolz zu naͤhren mißbraucht.
Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran- zoͤſiſchen Kunſtrichters gegen die Zelmire des Du Belloy, iſt wichtiger. Er tadelt, daß ſie faſt nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun- derbarer Zufaͤlle ſey, die in den engen Raum von vier und zwanzig Stunden zuſammenge- preßt, aller Illuſion unfaͤhig wuͤrden. Eine ſeltſam ausgeſparte Situation uͤber die andere! ein Theaterſtreich uͤber den andern! Was ge- ſchieht nicht alles! was hat man nicht alles zu behalten! Wo ſich die Begebenheiten ſo dren- gen, koͤnnen ſchwerlich alle vorbereitet genug ſeyn. Wo uns ſo vieles uͤberraſcht, wird uns leicht manches mehr befremden, als uͤberraſchen. „Warum muß ſich z. E. der Tyrann dem Rham-
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men, daß es eine Beſtimmung des Theaters mit
ſey, das Andenken großer Maͤnner zu erhalten;
dafuͤr iſt die Geſchichte, aber nicht das Theater.
Auf dem Theater ſollen wir nicht lernen, was
dieſer oder jener einzelne Menſch gethan hat, ſon-
dern was ein jeder Menſch von einem gewiſſen
Charakter unter gewiſſen gegebenen Umſtaͤnden
thun werde. Die Abſicht der Tragoͤdie iſt weit
philoſophiſcher, als die Abſicht der Geſchichte;
und es heißt ſie von ihrer wahren Wuͤrde herab-
ſetzen, wenn man ſie zu einem bloßen Panegyri-
kus beruͤhmter Maͤnner macht, oder ſie gar den
Nationalſtolz zu naͤhren mißbraucht.
Die zweyte Erinnerung des nehmlichen fran-
zoͤſiſchen Kunſtrichters gegen die Zelmire des
Du Belloy, iſt wichtiger. Er tadelt, daß ſie
faſt nichts als ein Gewebe mannichfaltiger wun-
derbarer Zufaͤlle ſey, die in den engen Raum
von vier und zwanzig Stunden zuſammenge-
preßt, aller Illuſion unfaͤhig wuͤrden. Eine
ſeltſam ausgeſparte Situation uͤber die andere!
ein Theaterſtreich uͤber den andern! Was ge-
ſchieht nicht alles! was hat man nicht alles zu
behalten! Wo ſich die Begebenheiten ſo dren-
gen, koͤnnen ſchwerlich alle vorbereitet genug
ſeyn. Wo uns ſo vieles uͤberraſcht, wird uns
leicht manches mehr befremden, als uͤberraſchen.
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[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 147. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/161>, abgerufen am 22.11.2024.
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