wenn sich endlich dieser Unglückliche vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und fürchterlichen Augen- blicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu seyn? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet sich denn nicht dieses Wunderbare genug- sam in dem plötzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unschuld zum Verbre- chen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?"
Man lasse aber diese Betrachtungen den Fran- zosen, von ihren Diderots und Mormontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das bürgerliche Trauerspiel darum bey ihnen besonders in Schwang kommen werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußer- liche Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemein- sten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seines gleichen, ist so viel als schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie er- wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und Stärke zu zeigen
ver-
O 2
wenn ſich endlich dieſer Ungluͤckliche vergiftet; wenn er, nachdem er ſich vergiftet, erfaͤhrt, daß der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet dieſem ſchmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen- blicke, wo ſich zu den Schreckniſſen des Todes marternde Vorſtellungen, wie gluͤcklich er habe leben koͤnnen, geſellen; was fehlt ihm, frage ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu ſeyn? Das Wunderbare, wird man antworten. Wie? findet ſich denn nicht dieſes Wunderbare genug- ſam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre zur Schande, von der Unſchuld zum Verbre- chen, von der ſuͤßeſten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in dem aͤußerſten Ungluͤcke, in das eine bloße Schwachheit geſtuͤrzet?„
Man laſſe aber dieſe Betrachtungen den Fran- zoſen, von ihren Diderots und Mormontels, noch ſo eingeſchaͤrft werden: es ſcheint doch nicht, daß das buͤrgerliche Trauerſpiel darum bey ihnen beſonders in Schwang kommen werde. Die Nation iſt zu eitel, iſt in Titel und andere aͤußer- liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein- ſten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen; und Geſellſchaft mit ſeines gleichen, iſt ſo viel als ſchlechte Geſellſchaft. Zwar ein gluͤckliches Genie vermag viel uͤber ſein Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und ſie er- wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der ſie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigen
ver-
O 2
<TEI><text><body><divn="1"><cit><quote><pbfacs="#f0121"n="107"/>
wenn ſich endlich dieſer Ungluͤckliche vergiftet;<lb/>
wenn er, nachdem er ſich vergiftet, erfaͤhrt, daß<lb/>
der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet<lb/>
dieſem ſchmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen-<lb/>
blicke, wo ſich zu den Schreckniſſen des Todes<lb/>
marternde Vorſtellungen, wie gluͤcklich er habe<lb/>
leben koͤnnen, geſellen; was fehlt ihm, frage<lb/>
ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu ſeyn? Das<lb/>
Wunderbare, wird man antworten. Wie?<lb/>
findet ſich denn nicht dieſes Wunderbare genug-<lb/>ſam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre<lb/>
zur Schande, von der Unſchuld zum Verbre-<lb/>
chen, von der ſuͤßeſten Ruhe zur Verzweiflung;<lb/>
kurz, in dem aͤußerſten Ungluͤcke, in das eine<lb/>
bloße Schwachheit geſtuͤrzet?„</quote></cit><lb/><p>Man laſſe aber dieſe Betrachtungen den Fran-<lb/>
zoſen, von ihren Diderots und Mormontels,<lb/>
noch ſo eingeſchaͤrft werden: es ſcheint doch nicht,<lb/>
daß das buͤrgerliche Trauerſpiel darum bey ihnen<lb/>
beſonders in Schwang kommen werde. Die<lb/>
Nation iſt zu eitel, iſt in Titel und andere aͤußer-<lb/>
liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein-<lb/>ſten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen;<lb/>
und Geſellſchaft mit ſeines gleichen, iſt ſo viel<lb/>
als ſchlechte Geſellſchaft. Zwar ein gluͤckliches<lb/>
Genie vermag viel uͤber ſein Volk; die Natur<lb/>
hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und ſie er-<lb/>
wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der<lb/>ſie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">O 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">ver-</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[107/0121]
wenn ſich endlich dieſer Ungluͤckliche vergiftet;
wenn er, nachdem er ſich vergiftet, erfaͤhrt, daß
der Himmel ihn noch retten wollen: was fehlet
dieſem ſchmerzlichen und fuͤrchterlichen Augen-
blicke, wo ſich zu den Schreckniſſen des Todes
marternde Vorſtellungen, wie gluͤcklich er habe
leben koͤnnen, geſellen; was fehlt ihm, frage
ich, um der Tragoͤdie wuͤrdig zu ſeyn? Das
Wunderbare, wird man antworten. Wie?
findet ſich denn nicht dieſes Wunderbare genug-
ſam in dem ploͤtzlichen Uebergange von der Ehre
zur Schande, von der Unſchuld zum Verbre-
chen, von der ſuͤßeſten Ruhe zur Verzweiflung;
kurz, in dem aͤußerſten Ungluͤcke, in das eine
bloße Schwachheit geſtuͤrzet?„
Man laſſe aber dieſe Betrachtungen den Fran-
zoſen, von ihren Diderots und Mormontels,
noch ſo eingeſchaͤrft werden: es ſcheint doch nicht,
daß das buͤrgerliche Trauerſpiel darum bey ihnen
beſonders in Schwang kommen werde. Die
Nation iſt zu eitel, iſt in Titel und andere aͤußer-
liche Vorzuͤge zu verliebt; bis auf den gemein-
ſten Mann, will alles mit Vornehmern umgehen;
und Geſellſchaft mit ſeines gleichen, iſt ſo viel
als ſchlechte Geſellſchaft. Zwar ein gluͤckliches
Genie vermag viel uͤber ſein Volk; die Natur
hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und ſie er-
wartet vielleicht auch dort nur den Dichter, der
ſie in aller ihrer Wahrheit und Staͤrke zu zeigen
ver-
O 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Lessing, Gotthold Ephraim]: Hamburgische Dramaturgie. Bd. 1. Hamburg u. a., [1769], S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lessing_dramaturgie01_1767/121>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.