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Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876.

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den übrigen Stämmen getrennt waren. Da Lautwandel, wie der von dj, tj in
dz, c und der von ere in re oder sonst wie in keinem inneren Zusammenhang
mit einander stehen, so bleibt es immer möglich, dass von den späteren West-
slaven bei ihrer Trennung von der anderen Abtheilung die Cechen re hatten,
Polen, Polaben und Sorben ere, dass im Cechischen jenes blieb, im Polnischen,
Polabischen und Sorbischen re entstand und dabei nach der Trennung erst das
über alle vier Stämme sich ausdehnende dz, c ausgebildet wurde. Ich weiss
wenigstens nicht, wie man je beweisen will, dass diese verschiedenen Erschei-
nungen nothwendig gleichzeitig auf dem Boden der Urheimat eintreten mussten.

Ob Schmidt das Verhältniss der slavischen Sprachen richtig bestimmt hat,
hängt also allein von dem vierten Punkte ab, davon, ob seine Erklärung der be-
treffenden Erscheinungen richtig und ob das chronologische Verhältniss der ein-
zelnen Erscheinungen von ihm richtig dargestellt ist. Es ist äusserst schwierig,
ohne auf die erdrückende Masse von Einzelheiten, auf sämmtliche Beispiele ein-
zugehen, über diesen Gegenstand zu handeln, und ich kann mir hier nicht die
Aufgabe stellen nachzuweisen, dass Schmidts Svarabhaktitheorie angewendet auf
jede beliebige Behandlung der betreffenden Lautgruppen im Slavischen verfehlt
ist. Es kommt mir nur darauf an, an einem Beispiel zu zeigen, dass die aus der
Behandlung von ursprünglichem er, el, ar, al entnommenen Kriterien nicht zur
Aufstellung der Uebergangsreihen, wie sie Schmidt hat, berechtigen und selbst
seine eigenen Angaben dagegen sprechen.

Ich nehme als Beispiel den Fall, wo im Urslavischen die Lautgruppe ar, al
vor Consonant stand. Daraus müsste im Gange der regelmässigen Entwicklung
or, ol werden, oder wie Schmidt will, ar, al, also mit einer Zwischenstufe
zwischen reinem a und tieferem o, ein Unterschied, auf den es hier zunächst
nicht ankommt. Die Untersuchung der in den einzelnen slavischen Sprachen
überlieferten Formen dieser ursprünglichen Lautgruppen führte ihn zu dem
Schluss, dass die gemeinsame, in der Zeit der ununterbrochenen Continuität des
Slaventhums herrschende Vorstufe das durch Svarabhakti entstandene oro, olo
(ara, ala) gewesen sei, und zwar ausnahmslos und ohne Unterschied, ob jene
Gruppen im Inlaut zwischen Consonanten standen oder ar, al anlauteten. Die
Annahme der Svarabhakti für den Anlaut bildet aber den schwachen Punkt der
ganzen Theorie: es ist uns hier Svarabhakti in den slavischen Sprachen nicht
bloss nicht überliefert, sondern es lässt sich auch mit der grössten Sicherheit
zeigen, dass sie nie vorhanden war. Es kommen zwei Fälle in Betracht: ent-
weder die Sprachen differiren im Vocal als a und o, oder sie haben alle a (ein-
mal alle o). Nehmen wir zunächst den ersten Fall: nach Schmidt ist die Ent-
wicklung z. B. eines ursprünglichen * arlija (Acker, W. ar) folgende:

urslav. * arlija
urslav. * aralija
westslav., russ. * orolija; südslav. ralija
westslav., russ. rolja (rolija).

Dies Schema entspricht nicht der nach der Behandlung des Inlauts (wo ar, al
zwischen Consonanten stehen) zu erwartenden Regel, darnach müsste im Russi-

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den übrigen Stämmen getrennt waren. Da Lautwandel, wie der von dj, tj in
dz, c und der von ere in oder sonst wie in keinem inneren Zusammenhang
mit einander stehen, so bleibt es immer möglich, dass von den späteren West-
slaven bei ihrer Trennung von der anderen Abtheilung die Čechen hatten,
Polen, Polaben und Sorben ere, dass im Čechischen jenes blieb, im Polnischen,
Polabischen und Sorbischen re entstand und dabei nach der Trennung erst das
über alle vier Stämme sich ausdehnende dz, c ausgebildet wurde. Ich weiss
wenigstens nicht, wie man je beweisen will, dass diese verschiedenen Erschei-
nungen nothwendig gleichzeitig auf dem Boden der Urheimat eintreten mussten.

Ob Schmidt das Verhältniss der slavischen Sprachen richtig bestimmt hat,
hängt also allein von dem vierten Punkte ab, davon, ob seine Erklärung der be-
treffenden Erscheinungen richtig und ob das chronologische Verhältniss der ein-
zelnen Erscheinungen von ihm richtig dargestellt ist. Es ist äusserst schwierig,
ohne auf die erdrückende Masse von Einzelheiten, auf sämmtliche Beispiele ein-
zugehen, über diesen Gegenstand zu handeln, und ich kann mir hier nicht die
Aufgabe stellen nachzuweisen, dass Schmidts Svarabhaktitheorie angewendet auf
jede beliebige Behandlung der betreffenden Lautgruppen im Slavischen verfehlt
ist. Es kommt mir nur darauf an, an einem Beispiel zu zeigen, dass die aus der
Behandlung von ursprünglichem er, el, ar, al entnommenen Kriterien nicht zur
Aufstellung der Uebergangsreihen, wie sie Schmidt hat, berechtigen und selbst
seine eigenen Angaben dagegen sprechen.

Ich nehme als Beispiel den Fall, wo im Urslavischen die Lautgruppe ar, al
vor Consonant stand. Daraus müsste im Gange der regelmässigen Entwicklung
or, ol werden, oder wie Schmidt will, år, ål, also mit einer Zwischenstufe
zwischen reinem a und tieferem o, ein Unterschied, auf den es hier zunächst
nicht ankommt. Die Untersuchung der in den einzelnen slavischen Sprachen
überlieferten Formen dieser ursprünglichen Lautgruppen führte ihn zu dem
Schluss, dass die gemeinsame, in der Zeit der ununterbrochenen Continuität des
Slaventhums herrschende Vorstufe das durch Svarabhakti entstandene oro, olo
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Gruppen im Inlaut zwischen Consonanten standen oder ar, al anlauteten. Die
Annahme der Svarabhakti für den Anlaut bildet aber den schwachen Punkt der
ganzen Theorie: es ist uns hier Svarabhakti in den slavischen Sprachen nicht
bloss nicht überliefert, sondern es lässt sich auch mit der grössten Sicherheit
zeigen, dass sie nie vorhanden war. Es kommen zwei Fälle in Betracht: ent-
weder die Sprachen differiren im Vocal als a und o, oder sie haben alle a (ein-
mal alle o). Nehmen wir zunächst den ersten Fall: nach Schmidt ist die Ent-
wicklung z. B. eines ursprünglichen * arlijā (Acker, W. ar) folgende:

urslav. * årlija
urslav. * årålija
westslav., russ. * orolĭja; südslav. rālija
westslav., russ. rolja (rolĭja).

Dies Schema entspricht nicht der nach der Behandlung des Inlauts (wo ar, al
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[XVIII/0024] Einleitung. den übrigen Stämmen getrennt waren. Da Lautwandel, wie der von dj, tj in dz, c und der von ere in rě oder sonst wie in keinem inneren Zusammenhang mit einander stehen, so bleibt es immer möglich, dass von den späteren West- slaven bei ihrer Trennung von der anderen Abtheilung die Čechen rě hatten, Polen, Polaben und Sorben ere, dass im Čechischen jenes blieb, im Polnischen, Polabischen und Sorbischen re entstand und dabei nach der Trennung erst das über alle vier Stämme sich ausdehnende dz, c ausgebildet wurde. Ich weiss wenigstens nicht, wie man je beweisen will, dass diese verschiedenen Erschei- nungen nothwendig gleichzeitig auf dem Boden der Urheimat eintreten mussten. Ob Schmidt das Verhältniss der slavischen Sprachen richtig bestimmt hat, hängt also allein von dem vierten Punkte ab, davon, ob seine Erklärung der be- treffenden Erscheinungen richtig und ob das chronologische Verhältniss der ein- zelnen Erscheinungen von ihm richtig dargestellt ist. Es ist äusserst schwierig, ohne auf die erdrückende Masse von Einzelheiten, auf sämmtliche Beispiele ein- zugehen, über diesen Gegenstand zu handeln, und ich kann mir hier nicht die Aufgabe stellen nachzuweisen, dass Schmidts Svarabhaktitheorie angewendet auf jede beliebige Behandlung der betreffenden Lautgruppen im Slavischen verfehlt ist. Es kommt mir nur darauf an, an einem Beispiel zu zeigen, dass die aus der Behandlung von ursprünglichem er, el, ar, al entnommenen Kriterien nicht zur Aufstellung der Uebergangsreihen, wie sie Schmidt hat, berechtigen und selbst seine eigenen Angaben dagegen sprechen. Ich nehme als Beispiel den Fall, wo im Urslavischen die Lautgruppe ar, al vor Consonant stand. Daraus müsste im Gange der regelmässigen Entwicklung or, ol werden, oder wie Schmidt will, år, ål, also mit einer Zwischenstufe zwischen reinem a und tieferem o, ein Unterschied, auf den es hier zunächst nicht ankommt. Die Untersuchung der in den einzelnen slavischen Sprachen überlieferten Formen dieser ursprünglichen Lautgruppen führte ihn zu dem Schluss, dass die gemeinsame, in der Zeit der ununterbrochenen Continuität des Slaventhums herrschende Vorstufe das durch Svarabhakti entstandene oro, olo (årå, ålå) gewesen sei, und zwar ausnahmslos und ohne Unterschied, ob jene Gruppen im Inlaut zwischen Consonanten standen oder ar, al anlauteten. Die Annahme der Svarabhakti für den Anlaut bildet aber den schwachen Punkt der ganzen Theorie: es ist uns hier Svarabhakti in den slavischen Sprachen nicht bloss nicht überliefert, sondern es lässt sich auch mit der grössten Sicherheit zeigen, dass sie nie vorhanden war. Es kommen zwei Fälle in Betracht: ent- weder die Sprachen differiren im Vocal als a und o, oder sie haben alle a (ein- mal alle o). Nehmen wir zunächst den ersten Fall: nach Schmidt ist die Ent- wicklung z. B. eines ursprünglichen * arlijā (Acker, W. ar) folgende: urslav. * årlija urslav. * årålija westslav., russ. * orolĭja; südslav. rālija westslav., russ. rolja (rolĭja). Dies Schema entspricht nicht der nach der Behandlung des Inlauts (wo ar, al zwischen Consonanten stehen) zu erwartenden Regel, darnach müsste im Russi-

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Zitationshilfe: Leskien, August: Die Declination im Slavisch-Litauischen und Germanischen. Leipzig, 1876, S. XVIII. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/leskien_declination_1876/24>, abgerufen am 28.03.2024.