Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.einmal fahren zu lassen? Welches Genie liest das andere so? -- Mitten im hellesten Anschaun der Zaubermächte des andern und ihren Wirkungen und Stössen auf sein Herz, dringen Millionen unberufene Gedanken -- dein Blatt Kritik -- dein unvollendeter Roman -- dein Brief -- oft bis auf die Wäsche hinunter -- weg sind die süssen Jl- lusionen, da zappelt er wieder auf dem San- de, der vor einem Augenblicke im Meere von Wollust dahin schwamm. Und wenn das Genie so liest o popoi wie liest der Philister denn? Wo ist da lebendige Vorstellung der tausend großen Einzelheiten, ihrer Verbin- dungen, ihres göttlichen ganzen Eindrucks? Was kann der Epopeendichter thun, unsere Aufmerksamkeit fest zu halten, an seine Ga- leere anzuschmieden und dann mit ihr 'von zu fahren? Einen Vorrath von Witz ver- schütten, der sich tausendmal erschöpft (siehe Fielding und andere) oder wie Homer, blind das Publikum verachten und für sich selber singen? Der Schauspieldichter hats besser, wenn das Schicksal seine Wünsche erhören wollte. Schlimmer, wenn es sie nur halb erhört. Werd ich gelesen und der Kopf ist so krank oder so klein, daß alle meine Pin- selzüge unwahrgenommen vorbey schwim- men, geschweige in ein Gemählde zusammen- fliessen -- Trost! ich wollte nicht gelesen wer-
einmal fahren zu laſſen? Welches Genie lieſt das andere ſo? — Mitten im helleſten Anſchaun der Zaubermaͤchte des andern und ihren Wirkungen und Stoͤſſen auf ſein Herz, dringen Millionen unberufene Gedanken — dein Blatt Kritik — dein unvollendeter Roman — dein Brief — oft bis auf die Waͤſche hinunter — weg ſind die ſuͤſſen Jl- luſionen, da zappelt er wieder auf dem San- de, der vor einem Augenblicke im Meere von Wolluſt dahin ſchwamm. Und wenn das Genie ſo lieſt ω πωποι wie lieſt der Philiſter denn? Wo iſt da lebendige Vorſtellung der tauſend großen Einzelheiten, ihrer Verbin- dungen, ihres goͤttlichen ganzen Eindrucks? Was kann der Epopeendichter thun, unſere Aufmerkſamkeit feſt zu halten, an ſeine Ga- leere anzuſchmieden und dann mit ihr ’von zu fahren? Einen Vorrath von Witz ver- ſchuͤtten, der ſich tauſendmal erſchoͤpft (ſiehe Fielding und andere) oder wie Homer, blind das Publikum verachten und fuͤr ſich ſelber ſingen? Der Schauſpieldichter hats beſſer, wenn das Schickſal ſeine Wuͤnſche erhoͤren wollte. Schlimmer, wenn es ſie nur halb erhoͤrt. Werd ich geleſen und der Kopf iſt ſo krank oder ſo klein, daß alle meine Pin- ſelzuͤge unwahrgenommen vorbey ſchwim- men, geſchweige in ein Gemaͤhlde zuſammen- flieſſen — Troſt! ich wollte nicht geleſen wer-
<TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0038" n="32"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> einmal fahren zu laſſen? Welches Genie<lb/> lieſt das andere ſo? — Mitten im helleſten<lb/> Anſchaun der Zaubermaͤchte des andern und<lb/> ihren Wirkungen und Stoͤſſen auf ſein Herz,<lb/> dringen Millionen unberufene Gedanken —<lb/> dein Blatt Kritik — dein unvollendeter<lb/> Roman — dein Brief — oft bis auf die<lb/> Waͤſche hinunter — weg ſind die ſuͤſſen Jl-<lb/> luſionen, da zappelt er wieder auf dem San-<lb/> de, der vor einem Augenblicke im Meere von<lb/> Wolluſt dahin ſchwamm. Und wenn das<lb/> Genie ſo lieſt ω πωποι wie lieſt der Philiſter<lb/> denn? Wo iſt da lebendige Vorſtellung der<lb/> tauſend großen Einzelheiten, ihrer Verbin-<lb/> dungen, ihres goͤttlichen ganzen Eindrucks?<lb/> Was kann der Epopeendichter thun, unſere<lb/> Aufmerkſamkeit feſt zu halten, an ſeine Ga-<lb/> leere anzuſchmieden und dann mit ihr ’von<lb/> zu fahren? Einen Vorrath von Witz ver-<lb/> ſchuͤtten, der ſich tauſendmal erſchoͤpft (ſiehe<lb/> Fielding und andere) oder wie Homer, blind<lb/> das Publikum verachten und fuͤr ſich ſelber<lb/> ſingen? Der Schauſpieldichter hats beſſer,<lb/> wenn das Schickſal ſeine Wuͤnſche erhoͤren<lb/> wollte. Schlimmer, wenn es ſie nur halb<lb/> erhoͤrt. Werd ich geleſen und der Kopf iſt<lb/> ſo krank oder ſo klein, daß alle meine Pin-<lb/> ſelzuͤge unwahrgenommen vorbey ſchwim-<lb/> men, geſchweige in ein Gemaͤhlde zuſammen-<lb/> flieſſen — Troſt! ich wollte nicht geleſen<lb/> <fw place="bottom" type="catch">wer-</fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [32/0038]
einmal fahren zu laſſen? Welches Genie
lieſt das andere ſo? — Mitten im helleſten
Anſchaun der Zaubermaͤchte des andern und
ihren Wirkungen und Stoͤſſen auf ſein Herz,
dringen Millionen unberufene Gedanken —
dein Blatt Kritik — dein unvollendeter
Roman — dein Brief — oft bis auf die
Waͤſche hinunter — weg ſind die ſuͤſſen Jl-
luſionen, da zappelt er wieder auf dem San-
de, der vor einem Augenblicke im Meere von
Wolluſt dahin ſchwamm. Und wenn das
Genie ſo lieſt ω πωποι wie lieſt der Philiſter
denn? Wo iſt da lebendige Vorſtellung der
tauſend großen Einzelheiten, ihrer Verbin-
dungen, ihres goͤttlichen ganzen Eindrucks?
Was kann der Epopeendichter thun, unſere
Aufmerkſamkeit feſt zu halten, an ſeine Ga-
leere anzuſchmieden und dann mit ihr ’von
zu fahren? Einen Vorrath von Witz ver-
ſchuͤtten, der ſich tauſendmal erſchoͤpft (ſiehe
Fielding und andere) oder wie Homer, blind
das Publikum verachten und fuͤr ſich ſelber
ſingen? Der Schauſpieldichter hats beſſer,
wenn das Schickſal ſeine Wuͤnſche erhoͤren
wollte. Schlimmer, wenn es ſie nur halb
erhoͤrt. Werd ich geleſen und der Kopf iſt
ſo krank oder ſo klein, daß alle meine Pin-
ſelzuͤge unwahrgenommen vorbey ſchwim-
men, geſchweige in ein Gemaͤhlde zuſammen-
flieſſen — Troſt! ich wollte nicht geleſen
wer-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |