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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774.

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Punkt mit der Tragödie eins, daß jede eine
Nachahmung edler Handlungen mittelst einer
Rede ist. Darinn aber unterschieden, daß
jene ein einfaches Metrum und als eine Er-
zählung lang fortgeht, diese aber, wenn es
möglich, nur den Umlauf einer Sonne in sich
schließt, da die Epopee von unbestimmter Zeit
ist." Sind denn aber zehn Jahr, die der
Trojanische Krieg währte, nicht eben so gut
bestimmte Zeit als unus solis ambitus? Wo
hinaus, lieber Kunstrichter, mit dieser differen-
tia specifica?
Es springt ja in die Augen, daß
in der Epopee der Dichter selbst auftritt,
im Schauspiele aber seine Helden. Warum
sondern wir denn das Wort vorstellen, das
einzige Prädikat zu diesem Subjekt, von der
Tragödie ab, die Tragödie stellt vor, das
Heldengedicht erzehlt: aber freylich in un-
sern heutigen Tragödien wird nicht mehr vor-
gestellt.

Wenn wir das Schicksal des Genies be-
trachten (ich rede von Schriststellern) so ist
es unter aller Erdensöhne ihrem das bäng-
ste, das traurigste. Jch rede ehrlich, von
den grössesten Produkten alter und neuer
Zeiten. Wer liest sie? wer genießt sie? --
Wer verdaut sie? Fühlt das, was sie fühlte?
Folgt der unsichtbaren Kette, die ihre ganze
große Maschine in eins schlingt, ohne sie

einmal



Punkt mit der Tragoͤdie eins, daß jede eine
Nachahmung edler Handlungen mittelſt einer
Rede iſt. Darinn aber unterſchieden, daß
jene ein einfaches Metrum und als eine Er-
zaͤhlung lang fortgeht, dieſe aber, wenn es
moͤglich, nur den Umlauf einer Sonne in ſich
ſchließt, da die Epopee von unbeſtimmter Zeit
iſt.‟ Sind denn aber zehn Jahr, die der
Trojaniſche Krieg waͤhrte, nicht eben ſo gut
beſtimmte Zeit als unus ſolis ambitus? Wo
hinaus, lieber Kunſtrichter, mit dieſer differen-
tia ſpecifica?
Es ſpringt ja in die Augen, daß
in der Epopee der Dichter ſelbſt auftritt,
im Schauſpiele aber ſeine Helden. Warum
ſondern wir denn das Wort vorſtellen, das
einzige Praͤdikat zu dieſem Subjekt, von der
Tragoͤdie ab, die Tragoͤdie ſtellt vor, das
Heldengedicht erzehlt: aber freylich in un-
ſern heutigen Tragoͤdien wird nicht mehr vor-
geſtellt.

Wenn wir das Schickſal des Genies be-
trachten (ich rede von Schriſtſtellern) ſo iſt
es unter aller Erdenſoͤhne ihrem das baͤng-
ſte, das traurigſte. Jch rede ehrlich, von
den groͤſſeſten Produkten alter und neuer
Zeiten. Wer lieſt ſie? wer genießt ſie? —
Wer verdaut ſie? Fuͤhlt das, was ſie fuͤhlte?
Folgt der unſichtbaren Kette, die ihre ganze
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[31/0037] Punkt mit der Tragoͤdie eins, daß jede eine Nachahmung edler Handlungen mittelſt einer Rede iſt. Darinn aber unterſchieden, daß jene ein einfaches Metrum und als eine Er- zaͤhlung lang fortgeht, dieſe aber, wenn es moͤglich, nur den Umlauf einer Sonne in ſich ſchließt, da die Epopee von unbeſtimmter Zeit iſt.‟ Sind denn aber zehn Jahr, die der Trojaniſche Krieg waͤhrte, nicht eben ſo gut beſtimmte Zeit als unus ſolis ambitus? Wo hinaus, lieber Kunſtrichter, mit dieſer differen- tia ſpecifica? Es ſpringt ja in die Augen, daß in der Epopee der Dichter ſelbſt auftritt, im Schauſpiele aber ſeine Helden. Warum ſondern wir denn das Wort vorſtellen, das einzige Praͤdikat zu dieſem Subjekt, von der Tragoͤdie ab, die Tragoͤdie ſtellt vor, das Heldengedicht erzehlt: aber freylich in un- ſern heutigen Tragoͤdien wird nicht mehr vor- geſtellt. Wenn wir das Schickſal des Genies be- trachten (ich rede von Schriſtſtellern) ſo iſt es unter aller Erdenſoͤhne ihrem das baͤng- ſte, das traurigſte. Jch rede ehrlich, von den groͤſſeſten Produkten alter und neuer Zeiten. Wer lieſt ſie? wer genießt ſie? — Wer verdaut ſie? Fuͤhlt das, was ſie fuͤhlte? Folgt der unſichtbaren Kette, die ihre ganze große Maſchine in eins ſchlingt, ohne ſie einmal

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Zitationshilfe: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/37>, abgerufen am 24.11.2024.