Schliessen Sie die Brust zu, wo mehr als eine Adamsribbe rebellisch wird und kommen wieder hinüber mit mir in die lichten Regi- onen des Verstandes. Wir suchen alle gern unsere zusammengesetzte Begriffe in einfache zu reduciren und warum das? weil er sie dann schneller -- und mehr zugleich umfas- sen kann. Aber trostlos wären wir, wenn wir darüber das Anschauen und die Gegen- wart dieser Erkänntnisse verlieren sollten, und das immerwährende Bestreben, all unsere ge- sammleten Begriffe wieder auseinander zu wickeln und durchzuschauen, sie anschaulich und gegenwärtig zu machen, nehm' ich als die zweyte Quelle der Poesie an.
Der Schöpfer hat unserer Seele einen Bleyklumpen angehängt, der wie die Pen- duln an der Uhr sie durch seine niederziehen- de Kraft in beständiger Bewegung erhält. Anstatt also mit den Hypochondristen auf diesen sichern Freund zu schimpfen (amicus certus in re incerta, denn was für ein Wetterhahn ist unsere Seele?) ist er, hoff' ich, ein Kunststück des Schöpfers, all unsere Er- kenntniß festzuhalten, bis sie anschaulich ge- worden ist.
Die Sinne, ja die Sinne -- es kommt freilich auf die specifische Schleifung der Gläser und die specifische Grösse der Pro-
jekti-
Schlieſſen Sie die Bruſt zu, wo mehr als eine Adamsribbe rebelliſch wird und kommen wieder hinuͤber mit mir in die lichten Regi- onen des Verſtandes. Wir ſuchen alle gern unſere zuſammengeſetzte Begriffe in einfache zu reduciren und warum das? weil er ſie dann ſchneller — und mehr zugleich umfaſ- ſen kann. Aber troſtlos waͤren wir, wenn wir daruͤber das Anſchauen und die Gegen- wart dieſer Erkaͤnntniſſe verlieren ſollten, und das immerwaͤhrende Beſtreben, all unſere ge- ſammleten Begriffe wieder auseinander zu wickeln und durchzuſchauen, ſie anſchaulich und gegenwaͤrtig zu machen, nehm’ ich als die zweyte Quelle der Poeſie an.
Der Schoͤpfer hat unſerer Seele einen Bleyklumpen angehaͤngt, der wie die Pen- duln an der Uhr ſie durch ſeine niederziehen- de Kraft in beſtaͤndiger Bewegung erhaͤlt. Anſtatt alſo mit den Hypochondriſten auf dieſen ſichern Freund zu ſchimpfen (amicus certus in re incerta, denn was fuͤr ein Wetterhahn iſt unſere Seele?) iſt er, hoff’ ich, ein Kunſtſtuͤck des Schoͤpfers, all unſere Er- kenntniß feſtzuhalten, bis ſie anſchaulich ge- worden iſt.
Die Sinne, ja die Sinne — es kommt freilich auf die ſpecifiſche Schleifung der Glaͤſer und die ſpecifiſche Groͤſſe der Pro-
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Schlieſſen Sie die Bruſt zu, wo mehr als
eine Adamsribbe rebelliſch wird und kommen
wieder hinuͤber mit mir in die lichten Regi-
onen des Verſtandes. Wir ſuchen alle gern
unſere zuſammengeſetzte Begriffe in einfache
zu reduciren und warum das? weil er ſie
dann ſchneller — und mehr zugleich umfaſ-
ſen kann. Aber troſtlos waͤren wir, wenn
wir daruͤber das Anſchauen und die Gegen-
wart dieſer Erkaͤnntniſſe verlieren ſollten, und
das immerwaͤhrende Beſtreben, all unſere ge-
ſammleten Begriffe wieder auseinander zu
wickeln und durchzuſchauen, ſie anſchaulich
und gegenwaͤrtig zu machen, nehm’ ich als
die zweyte Quelle der Poeſie an.
Der Schoͤpfer hat unſerer Seele einen
Bleyklumpen angehaͤngt, der wie die Pen-
duln an der Uhr ſie durch ſeine niederziehen-
de Kraft in beſtaͤndiger Bewegung erhaͤlt.
Anſtatt alſo mit den Hypochondriſten
auf dieſen ſichern Freund zu ſchimpfen
(amicus certus in re incerta, denn was fuͤr
ein Wetterhahn iſt unſere Seele?) iſt er, hoff’
ich, ein Kunſtſtuͤck des Schoͤpfers, all unſere Er-
kenntniß feſtzuhalten, bis ſie anſchaulich ge-
worden iſt.
Die Sinne, ja die Sinne — es kommt
freilich auf die ſpecifiſche Schleifung der
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/20>, abgerufen am 16.02.2025.
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