Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkun- gen wie die des Körpers successiv sind, eine nach der andern. Woher das komme, das ist -- so viel ist gewiß, daß unsere Seele von ganzem Herzen wünscht, weder successiv zu erkennen, noch zu wollen. Wir möchten mit einem Blick durch die innerste Natur aller Wesen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur ist, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie sich, m. H. wenn Sie mir nicht glauben wollen. Wo- her die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntniß beklapst haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Jhrem Verstande zu umfassen, die lähmende Furcht, wenn Sie zur andern Seite übergehn, werden Sie die erste wieder aus dem Gedächtniß verlieren. Eben so bey jedem Genuß, wo- her dieser Sturm, das All zu erfassen, der Ueberdruß, wenn Jhrer keichenden Sehnsucht kein neuer Gegenstand übrig zu bleiben scheint -- die Welt wird für Sie arm und Sie schwärmen nach Brücken. Den zitter- lichtesten Strahl möcht Jhr Heißhunger bis in die Milchstrasse verfolgen, und blendete das erzürnte Schicksal Sie, wie Milton würden Sie sich in Chaos und Nacht Welten wäh- nen, deren Zugang im Reich der Wirklich- keiten Jhnen versperrt ist.
Schlies-
Unſere Seele iſt ein Ding, deſſen Wirkun- gen wie die des Koͤrpers ſucceſſiv ſind, eine nach der andern. Woher das komme, das iſt — ſo viel iſt gewiß, daß unſere Seele von ganzem Herzen wuͤnſcht, weder ſucceſſiv zu erkennen, noch zu wollen. Wir moͤchten mit einem Blick durch die innerſte Natur aller Weſen dringen, mit einer Empfindung alle Wonne, die in der Natur iſt, aufnehmen und mit uns vereinigen. Fragen Sie ſich, m. H. wenn Sie mir nicht glauben wollen. Wo- her die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntniß beklapſt haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Jhrem Verſtande zu umfaſſen, die laͤhmende Furcht, wenn Sie zur andern Seite uͤbergehn, werden Sie die erſte wieder aus dem Gedaͤchtniß verlieren. Eben ſo bey jedem Genuß, wo- her dieſer Sturm, das All zu erfaſſen, der Ueberdruß, wenn Jhrer keichenden Sehnſucht kein neuer Gegenſtand uͤbrig zu bleiben ſcheint — die Welt wird fuͤr Sie arm und Sie ſchwaͤrmen nach Bruͤcken. Den zitter- lichteſten Strahl moͤcht Jhr Heißhunger bis in die Milchſtraſſe verfolgen, und blendete das erzuͤrnte Schickſal Sie, wie Milton wuͤrden Sie ſich in Chaos und Nacht Welten waͤh- nen, deren Zugang im Reich der Wirklich- keiten Jhnen verſperrt iſt.
Schlieſ-
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Unſere Seele iſt ein Ding, deſſen Wirkun-
gen wie die des Koͤrpers ſucceſſiv ſind, eine
nach der andern. Woher das komme, das
iſt — ſo viel iſt gewiß, daß unſere Seele von
ganzem Herzen wuͤnſcht, weder ſucceſſiv zu
erkennen, noch zu wollen. Wir moͤchten mit
einem Blick durch die innerſte Natur aller
Weſen dringen, mit einer Empfindung alle
Wonne, die in der Natur iſt, aufnehmen und
mit uns vereinigen. Fragen Sie ſich, m. H.
wenn Sie mir nicht glauben wollen. Wo-
her die Unruhe, wenn Sie hie und da eine
Seite der Erkenntniß beklapſt haben, das
zitternde Verlangen, das Ganze mit Jhrem
Verſtande zu umfaſſen, die laͤhmende Furcht,
wenn Sie zur andern Seite uͤbergehn, werden
Sie die erſte wieder aus dem Gedaͤchtniß
verlieren. Eben ſo bey jedem Genuß, wo-
her dieſer Sturm, das All zu erfaſſen, der
Ueberdruß, wenn Jhrer keichenden Sehnſucht
kein neuer Gegenſtand uͤbrig zu bleiben
ſcheint — die Welt wird fuͤr Sie arm und
Sie ſchwaͤrmen nach Bruͤcken. Den zitter-
lichteſten Strahl moͤcht Jhr Heißhunger bis
in die Milchſtraſſe verfolgen, und blendete das
erzuͤrnte Schickſal Sie, wie Milton wuͤrden
Sie ſich in Chaos und Nacht Welten waͤh-
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Lenz, Jakob Michael Reinhold: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. Leipzig, 1774, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenz_anmerkungen_1774/19>, abgerufen am 22.07.2024.
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