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Lenau, Nikolaus: Gedichte. Stuttgart, 1832.

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Die schönste Liebesblüthe Gottes tragend,
Des todten Heilands lächelnd Angesicht.
Und in der Forschung Wälder trat, ein Thor, ich
Aus jenem gottbeseelten Paradies,
Und all' des Herzens fromme Lust verlor ich,
Seit ich des Glaubens treue Spur verließ.
Im Labyrinthe floß in leisen Tropfen
Durchs Laubgewölb' das Licht, Staubregen kaum;
Mich aber trieb mein Herz mit starkem Klopfen,
Zu suchen der Erkenntniß hohen Baum.
Scheu floh der Pfad die ungeweihten Tritte,
Entschlüpfend in des Dickichts wirre Nacht,
Doch hascht' ich ihn, bis in des Waldes Mitte
Vor mir aufragt' in wunderbarer Pracht
Der Baum, nach dem mein lautes Herz sich sehnte,
Deß Gliederbau sich rings im stolzen Drang
Unübersehbar in die Lüfte dehnte; --
Ich stand, entzückt, und lauscht', erwartungbang:
Da hört' ich leise räthselhaftes Flüstern
Im dunkeln Laub, rasch flog von Ast zu Ast
Mein Blick empor und fragte jeden lüstern:
Trägst du vielleicht der Früchte süße Last?
Nun sah ich sie an hohen Zweigen blinken,
Und meine Seele seufzte heiß empor,
Die ſchoͤnſte Liebesbluͤthe Gottes tragend,
Des todten Heilands laͤchelnd Angeſicht.
Und in der Forſchung Waͤlder trat, ein Thor, ich
Aus jenem gottbeſeelten Paradies,
Und all' des Herzens fromme Luſt verlor ich,
Seit ich des Glaubens treue Spur verließ.
Im Labyrinthe floß in leiſen Tropfen
Durchs Laubgewoͤlb' das Licht, Staubregen kaum;
Mich aber trieb mein Herz mit ſtarkem Klopfen,
Zu ſuchen der Erkenntniß hohen Baum.
Scheu floh der Pfad die ungeweihten Tritte,
Entſchluͤpfend in des Dickichts wirre Nacht,
Doch haſcht' ich ihn, bis in des Waldes Mitte
Vor mir aufragt' in wunderbarer Pracht
Der Baum, nach dem mein lautes Herz ſich ſehnte,
Deß Gliederbau ſich rings im ſtolzen Drang
Unuͤberſehbar in die Luͤfte dehnte; —
Ich ſtand, entzuͤckt, und lauſcht', erwartungbang:
Da hoͤrt' ich leiſe raͤthſelhaftes Fluͤſtern
Im dunkeln Laub, raſch flog von Aſt zu Aſt
Mein Blick empor und fragte jeden luͤſtern:
Traͤgſt du vielleicht der Fruͤchte ſuͤße Laſt?
Nun ſah ich ſie an hohen Zweigen blinken,
Und meine Seele ſeufzte heiß empor,
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[175/0189] Die ſchoͤnſte Liebesbluͤthe Gottes tragend, Des todten Heilands laͤchelnd Angeſicht. Und in der Forſchung Waͤlder trat, ein Thor, ich Aus jenem gottbeſeelten Paradies, Und all' des Herzens fromme Luſt verlor ich, Seit ich des Glaubens treue Spur verließ. Im Labyrinthe floß in leiſen Tropfen Durchs Laubgewoͤlb' das Licht, Staubregen kaum; Mich aber trieb mein Herz mit ſtarkem Klopfen, Zu ſuchen der Erkenntniß hohen Baum. Scheu floh der Pfad die ungeweihten Tritte, Entſchluͤpfend in des Dickichts wirre Nacht, Doch haſcht' ich ihn, bis in des Waldes Mitte Vor mir aufragt' in wunderbarer Pracht Der Baum, nach dem mein lautes Herz ſich ſehnte, Deß Gliederbau ſich rings im ſtolzen Drang Unuͤberſehbar in die Luͤfte dehnte; — Ich ſtand, entzuͤckt, und lauſcht', erwartungbang: Da hoͤrt' ich leiſe raͤthſelhaftes Fluͤſtern Im dunkeln Laub, raſch flog von Aſt zu Aſt Mein Blick empor und fragte jeden luͤſtern: Traͤgſt du vielleicht der Fruͤchte ſuͤße Laſt? Nun ſah ich ſie an hohen Zweigen blinken, Und meine Seele ſeufzte heiß empor,

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Zitationshilfe: Lenau, Nikolaus: Gedichte. Stuttgart, 1832, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lenau_gedichte_1832/189>, abgerufen am 08.05.2024.