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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892.

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Die atlantische Küste von Amerika.
zähe und hartköpfige Race, welche Musik und Tanz für Sünde hielt,
bildete den Grundstock der grossen demokratischen Republik, deren
Geburtsstadt Boston ist. Wenn auch zwischen dem Denken und Fühlen
der heutigen Amerikaner und jenem der alten Puritaner ein him-
melweiter Unterschied ist, so ist doch nicht zu verkennen, dass ihr
Geist dem ganzen Culturleben der Union gewissermassen die Grund-
farbe gibt; ja die Neuengland-Staaten haben für alle Staaten bis an
den stillen Ocean bis heute und wohl noch für lange entschieden die
geistige Führerschaft.

Der Einwanderer englischer Abstammung fügt sich diesem
Geiste leicht, die anderen Nationen dürfen sich gegen die herrschende
Sitte nicht auflehnen.

Ein sichtbares Zeichen dieser Macht ist die Heiligung des Sonn-
tags nach der strengen Weise der Puritaner. Selbst die katholische
Kirche, die ihren Gläubigen in anderen Ländern am Tage des Herrn
die Aeusserung heiteren Frohsinnes nicht verwehrt, musste sich in
der Union dem heimischen Gebrauche anbequemen.

Von den Neuengland-Staaten geht die Temperenz-Bewegung in
der Union aus, welche gegen den Genuss geistiger Getränke,
selbst gegen den des Bieres, gerichtet ist. In Maine, das im äusser-
sten Nordwesten der Union liegt und eine Bevölkerung von 649.000
Seelen hat, dürfen nach einem Gesetze vom Jahre 1851 geistige Ge-
tränke weder erzeugt noch verkauft werden. Nur in den Apotheken
kann man sich solche verschaffen.

Auch die Agitation gegen die starke Einwanderung der letzten
zwanzig Jahre in die Union hat hier ihren Sitz.

In den Neuengland-Staaten verwandelten sich die aristokratisch
angehauchten Briten in die "Yankees", jenen originalen Menschen-
typus, welcher der so heterogenen Bevölkerung Nordamerikas den
geistigen Stempel aufdrückt und die Söhne der verschiedensten Völker
und Racen zu einem neuen Volke amalgamirt.

Für den richtigen Nordamerikaner ist Boston die Stadt der freien
Sitte, ebenso wie für den Romanen Paris. Boston ist für die Amerikaner
viel mehr eine echt amerikanische Stadt, als New-York. Boston ist in
gewisser Weise die geistige Capitale der Union.

Hier in Boston bildet ein reiches erbgesessenes Bürgerthum den
Grundstock der Gesellschaft; unter ihnen bewegen sich Nachkommen
der berühmten "Mayflower"-Einwanderer aus dem XVII. Jahrhunderte,
fast mit aristokratischen Alluren. Diesem gebildeten, soliden Reich-
thume verdankt Boston seine vielen wissenschaftlichen und künst-

Die atlantische Küste von Amerika.
zähe und hartköpfige Race, welche Musik und Tanz für Sünde hielt,
bildete den Grundstock der grossen demokratischen Republik, deren
Geburtsstadt Boston ist. Wenn auch zwischen dem Denken und Fühlen
der heutigen Amerikaner und jenem der alten Puritaner ein him-
melweiter Unterschied ist, so ist doch nicht zu verkennen, dass ihr
Geist dem ganzen Culturleben der Union gewissermassen die Grund-
farbe gibt; ja die Neuengland-Staaten haben für alle Staaten bis an
den stillen Ocean bis heute und wohl noch für lange entschieden die
geistige Führerschaft.

Der Einwanderer englischer Abstammung fügt sich diesem
Geiste leicht, die anderen Nationen dürfen sich gegen die herrschende
Sitte nicht auflehnen.

Ein sichtbares Zeichen dieser Macht ist die Heiligung des Sonn-
tags nach der strengen Weise der Puritaner. Selbst die katholische
Kirche, die ihren Gläubigen in anderen Ländern am Tage des Herrn
die Aeusserung heiteren Frohsinnes nicht verwehrt, musste sich in
der Union dem heimischen Gebrauche anbequemen.

Von den Neuengland-Staaten geht die Temperenz-Bewegung in
der Union aus, welche gegen den Genuss geistiger Getränke,
selbst gegen den des Bieres, gerichtet ist. In Maine, das im äusser-
sten Nordwesten der Union liegt und eine Bevölkerung von 649.000
Seelen hat, dürfen nach einem Gesetze vom Jahre 1851 geistige Ge-
tränke weder erzeugt noch verkauft werden. Nur in den Apotheken
kann man sich solche verschaffen.

Auch die Agitation gegen die starke Einwanderung der letzten
zwanzig Jahre in die Union hat hier ihren Sitz.

In den Neuengland-Staaten verwandelten sich die aristokratisch
angehauchten Briten in die „Yankees“, jenen originalen Menschen-
typus, welcher der so heterogenen Bevölkerung Nordamerikas den
geistigen Stempel aufdrückt und die Söhne der verschiedensten Völker
und Racen zu einem neuen Volke amalgamirt.

Für den richtigen Nordamerikaner ist Boston die Stadt der freien
Sitte, ebenso wie für den Romanen Paris. Boston ist für die Amerikaner
viel mehr eine echt amerikanische Stadt, als New-York. Boston ist in
gewisser Weise die geistige Capitale der Union.

Hier in Boston bildet ein reiches erbgesessenes Bürgerthum den
Grundstock der Gesellschaft; unter ihnen bewegen sich Nachkommen
der berühmten „Mayflower“-Einwanderer aus dem XVII. Jahrhunderte,
fast mit aristokratischen Alluren. Diesem gebildeten, soliden Reich-
thume verdankt Boston seine vielen wissenschaftlichen und künst-

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[38/0054] Die atlantische Küste von Amerika. zähe und hartköpfige Race, welche Musik und Tanz für Sünde hielt, bildete den Grundstock der grossen demokratischen Republik, deren Geburtsstadt Boston ist. Wenn auch zwischen dem Denken und Fühlen der heutigen Amerikaner und jenem der alten Puritaner ein him- melweiter Unterschied ist, so ist doch nicht zu verkennen, dass ihr Geist dem ganzen Culturleben der Union gewissermassen die Grund- farbe gibt; ja die Neuengland-Staaten haben für alle Staaten bis an den stillen Ocean bis heute und wohl noch für lange entschieden die geistige Führerschaft. Der Einwanderer englischer Abstammung fügt sich diesem Geiste leicht, die anderen Nationen dürfen sich gegen die herrschende Sitte nicht auflehnen. Ein sichtbares Zeichen dieser Macht ist die Heiligung des Sonn- tags nach der strengen Weise der Puritaner. Selbst die katholische Kirche, die ihren Gläubigen in anderen Ländern am Tage des Herrn die Aeusserung heiteren Frohsinnes nicht verwehrt, musste sich in der Union dem heimischen Gebrauche anbequemen. Von den Neuengland-Staaten geht die Temperenz-Bewegung in der Union aus, welche gegen den Genuss geistiger Getränke, selbst gegen den des Bieres, gerichtet ist. In Maine, das im äusser- sten Nordwesten der Union liegt und eine Bevölkerung von 649.000 Seelen hat, dürfen nach einem Gesetze vom Jahre 1851 geistige Ge- tränke weder erzeugt noch verkauft werden. Nur in den Apotheken kann man sich solche verschaffen. Auch die Agitation gegen die starke Einwanderung der letzten zwanzig Jahre in die Union hat hier ihren Sitz. In den Neuengland-Staaten verwandelten sich die aristokratisch angehauchten Briten in die „Yankees“, jenen originalen Menschen- typus, welcher der so heterogenen Bevölkerung Nordamerikas den geistigen Stempel aufdrückt und die Söhne der verschiedensten Völker und Racen zu einem neuen Volke amalgamirt. Für den richtigen Nordamerikaner ist Boston die Stadt der freien Sitte, ebenso wie für den Romanen Paris. Boston ist für die Amerikaner viel mehr eine echt amerikanische Stadt, als New-York. Boston ist in gewisser Weise die geistige Capitale der Union. Hier in Boston bildet ein reiches erbgesessenes Bürgerthum den Grundstock der Gesellschaft; unter ihnen bewegen sich Nachkommen der berühmten „Mayflower“-Einwanderer aus dem XVII. Jahrhunderte, fast mit aristokratischen Alluren. Diesem gebildeten, soliden Reich- thume verdankt Boston seine vielen wissenschaftlichen und künst-

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 2. Wien, 1892, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen02_1892/54>, abgerufen am 27.04.2024.