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Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891.

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Der atlantische Ocean.
Normandie, als eine wichtige Stütze ihrer Macht betrachteten und sehr ungern
allzusehr von derselben getrennt gewesen wären. Kein anderer Punkt aber als
gerade London bot so viele Vortheile. Wilhelm der Eroberer war zur See herüber-
gekommen, als er dem Sachsenkönig Harald das angetretene Erbe entriss, und es
wird gemeldet, dass er nach der Landung die Schiffe verbrennen liess, damit
seine Ritter und Knechte zum Siege gezwungen seien. Als aber das Land unter-
worfen war, da sorgte er für die unmittelbare Verbindung mit der See und als
ein kundiger Kriegsmann auch für eine sichere Verbindung mit seinem Stamm-
lande, und unter den damaligen Verhältnissen konnte beides kein Platz besser
bieten als die Stadt an der Themse. Wie richtig der Eroberer dies erkannte,
beweist, dass er den weissen Tower daselbst erbaute, einen Theil jenes festungs-
artigen Bauwerkes, in welchem der Besucher Londons manche tragische Epoche
britischer Geschichte an seinem geistigen Auge vorüberziehen sieht.

Es ist nicht möglich, der Entstehung Londons auf den Grund zu gehen.
Die Ansiedlung ist älter als die Quellen, welche von derselben berichten. Lange
vor dem Einfall der Römer bestand bereits eine von den alten Briten bewohnte
Stadt, deren damaliger Name von einem Könige Lud herrühren sollte und Llun-
dain lautete, aus welcher Bezeichnung dann das römische Londinium hervorging.
Die Römer, welche unter Caesar zum erstenmal den Boden der Insel, wenn auch
nur vorübergehend, betraten, aber erst in der zweiten Hälfte des I. Jahrhunderts
n. Chr. davon Besitz nahmen, fanden London schon "sehr berühmt durch die
Fülle seiner Kaufleute und Waarenzufuhren", wie uns Tacitus berichtet. Die Stadt
wurde jedoch von den Römern nicht zum Hauptorte der Provinz Britannien ge-
macht, erhielt aber die Stellung einer Colonie. Soweit sich heute urtheilen lässt,
umfasste diese römische Colonie die Strecke am linken Themseufer vom Tower
bis Ludgate und nördlich bis Finsbury und Moorfield.

Als die Römer den Inselbesitz aufgaben, brach eine lange schwere Zeit
für ganz England herein, welches zum Zielpunkte fremder Eroberer und dadurch
in vielfache Kämpfe verwickelt ward. Grosse Bedrängniss kam von der See her
durch die Nordmänner, und gerade das so leicht zugängliche London mag unter
dieser Plage nicht wenig gelitten haben, da es ob seines alten Verkehres den
seekundigen Nachbarn wohl bekannt gewesen sein muss. Es kam ferner der
starke Zug der Angeln und Sachsen von den germanischen Uferländern her,
welche allmälig mit der alten Bevölkerung sich vermischten und das Reich neu
besiedelten, denen aber in den Dänen grimmige Feinde entstanden. Diese dehnten
ihre Raubzüge nach England aus und eroberten im IX. Jahrhunderte den grössten
Theil des Landes, welches ihnen botmässig ward. Alfred der Grosse errang den
Angelsachsen wieder ihre nationale Unabhängigkeit und that den dänischen Be-
drängern Einhalt, so dass für einige Zeit wenigstens ruhigere Verhältnisse platz-
griffen. Aber ganz gaben die Dänen ihre Pläne nicht auf, immer wieder machten
sie Versuche, die volle Herrschaft zu erlangen, und als unter König Ethelred der
grosse Massenmord der auf der Insel wohnhaften Dänen geschehen war, kam furcht-
bare Vergeltung. Stärker denn je erschienen die alten Feinde und unterwarfen sich
das angelsächsische Reich, welches allmälig aus sieben einzelnen Königreichen zu
einem Ganzen verschmolzen worden war.

London spielte damals schon eine ansehnliche Rolle und behauptete sich
darin auch unter den beiden gewaltigen dänischen Herrschern Sven und Knut im
XI. Jahrhunderte. Nach dem Tode Knut's gelang es jedoch der alten Sachsen-

Der atlantische Ocean.
Normandie, als eine wichtige Stütze ihrer Macht betrachteten und sehr ungern
allzusehr von derselben getrennt gewesen wären. Kein anderer Punkt aber als
gerade London bot so viele Vortheile. Wilhelm der Eroberer war zur See herüber-
gekommen, als er dem Sachsenkönig Harald das angetretene Erbe entriss, und es
wird gemeldet, dass er nach der Landung die Schiffe verbrennen liess, damit
seine Ritter und Knechte zum Siege gezwungen seien. Als aber das Land unter-
worfen war, da sorgte er für die unmittelbare Verbindung mit der See und als
ein kundiger Kriegsmann auch für eine sichere Verbindung mit seinem Stamm-
lande, und unter den damaligen Verhältnissen konnte beides kein Platz besser
bieten als die Stadt an der Themse. Wie richtig der Eroberer dies erkannte,
beweist, dass er den weissen Tower daselbst erbaute, einen Theil jenes festungs-
artigen Bauwerkes, in welchem der Besucher Londons manche tragische Epoche
britischer Geschichte an seinem geistigen Auge vorüberziehen sieht.

Es ist nicht möglich, der Entstehung Londons auf den Grund zu gehen.
Die Ansiedlung ist älter als die Quellen, welche von derselben berichten. Lange
vor dem Einfall der Römer bestand bereits eine von den alten Briten bewohnte
Stadt, deren damaliger Name von einem Könige Lud herrühren sollte und Llun-
dain lautete, aus welcher Bezeichnung dann das römische Londinium hervorging.
Die Römer, welche unter Caesar zum erstenmal den Boden der Insel, wenn auch
nur vorübergehend, betraten, aber erst in der zweiten Hälfte des I. Jahrhunderts
n. Chr. davon Besitz nahmen, fanden London schon „sehr berühmt durch die
Fülle seiner Kaufleute und Waarenzufuhren“, wie uns Tacitus berichtet. Die Stadt
wurde jedoch von den Römern nicht zum Hauptorte der Provinz Britannien ge-
macht, erhielt aber die Stellung einer Colonie. Soweit sich heute urtheilen lässt,
umfasste diese römische Colonie die Strecke am linken Themseufer vom Tower
bis Ludgate und nördlich bis Finsbury und Moorfield.

Als die Römer den Inselbesitz aufgaben, brach eine lange schwere Zeit
für ganz England herein, welches zum Zielpunkte fremder Eroberer und dadurch
in vielfache Kämpfe verwickelt ward. Grosse Bedrängniss kam von der See her
durch die Nordmänner, und gerade das so leicht zugängliche London mag unter
dieser Plage nicht wenig gelitten haben, da es ob seines alten Verkehres den
seekundigen Nachbarn wohl bekannt gewesen sein muss. Es kam ferner der
starke Zug der Angeln und Sachsen von den germanischen Uferländern her,
welche allmälig mit der alten Bevölkerung sich vermischten und das Reich neu
besiedelten, denen aber in den Dänen grimmige Feinde entstanden. Diese dehnten
ihre Raubzüge nach England aus und eroberten im IX. Jahrhunderte den grössten
Theil des Landes, welches ihnen botmässig ward. Alfred der Grosse errang den
Angelsachsen wieder ihre nationale Unabhängigkeit und that den dänischen Be-
drängern Einhalt, so dass für einige Zeit wenigstens ruhigere Verhältnisse platz-
griffen. Aber ganz gaben die Dänen ihre Pläne nicht auf, immer wieder machten
sie Versuche, die volle Herrschaft zu erlangen, und als unter König Ethelred der
grosse Massenmord der auf der Insel wohnhaften Dänen geschehen war, kam furcht-
bare Vergeltung. Stärker denn je erschienen die alten Feinde und unterwarfen sich
das angelsächsische Reich, welches allmälig aus sieben einzelnen Königreichen zu
einem Ganzen verschmolzen worden war.

London spielte damals schon eine ansehnliche Rolle und behauptete sich
darin auch unter den beiden gewaltigen dänischen Herrschern Sven und Knut im
XI. Jahrhunderte. Nach dem Tode Knut’s gelang es jedoch der alten Sachsen-

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[918/0938] Der atlantische Ocean. Normandie, als eine wichtige Stütze ihrer Macht betrachteten und sehr ungern allzusehr von derselben getrennt gewesen wären. Kein anderer Punkt aber als gerade London bot so viele Vortheile. Wilhelm der Eroberer war zur See herüber- gekommen, als er dem Sachsenkönig Harald das angetretene Erbe entriss, und es wird gemeldet, dass er nach der Landung die Schiffe verbrennen liess, damit seine Ritter und Knechte zum Siege gezwungen seien. Als aber das Land unter- worfen war, da sorgte er für die unmittelbare Verbindung mit der See und als ein kundiger Kriegsmann auch für eine sichere Verbindung mit seinem Stamm- lande, und unter den damaligen Verhältnissen konnte beides kein Platz besser bieten als die Stadt an der Themse. Wie richtig der Eroberer dies erkannte, beweist, dass er den weissen Tower daselbst erbaute, einen Theil jenes festungs- artigen Bauwerkes, in welchem der Besucher Londons manche tragische Epoche britischer Geschichte an seinem geistigen Auge vorüberziehen sieht. Es ist nicht möglich, der Entstehung Londons auf den Grund zu gehen. Die Ansiedlung ist älter als die Quellen, welche von derselben berichten. Lange vor dem Einfall der Römer bestand bereits eine von den alten Briten bewohnte Stadt, deren damaliger Name von einem Könige Lud herrühren sollte und Llun- dain lautete, aus welcher Bezeichnung dann das römische Londinium hervorging. Die Römer, welche unter Caesar zum erstenmal den Boden der Insel, wenn auch nur vorübergehend, betraten, aber erst in der zweiten Hälfte des I. Jahrhunderts n. Chr. davon Besitz nahmen, fanden London schon „sehr berühmt durch die Fülle seiner Kaufleute und Waarenzufuhren“, wie uns Tacitus berichtet. Die Stadt wurde jedoch von den Römern nicht zum Hauptorte der Provinz Britannien ge- macht, erhielt aber die Stellung einer Colonie. Soweit sich heute urtheilen lässt, umfasste diese römische Colonie die Strecke am linken Themseufer vom Tower bis Ludgate und nördlich bis Finsbury und Moorfield. Als die Römer den Inselbesitz aufgaben, brach eine lange schwere Zeit für ganz England herein, welches zum Zielpunkte fremder Eroberer und dadurch in vielfache Kämpfe verwickelt ward. Grosse Bedrängniss kam von der See her durch die Nordmänner, und gerade das so leicht zugängliche London mag unter dieser Plage nicht wenig gelitten haben, da es ob seines alten Verkehres den seekundigen Nachbarn wohl bekannt gewesen sein muss. Es kam ferner der starke Zug der Angeln und Sachsen von den germanischen Uferländern her, welche allmälig mit der alten Bevölkerung sich vermischten und das Reich neu besiedelten, denen aber in den Dänen grimmige Feinde entstanden. Diese dehnten ihre Raubzüge nach England aus und eroberten im IX. Jahrhunderte den grössten Theil des Landes, welches ihnen botmässig ward. Alfred der Grosse errang den Angelsachsen wieder ihre nationale Unabhängigkeit und that den dänischen Be- drängern Einhalt, so dass für einige Zeit wenigstens ruhigere Verhältnisse platz- griffen. Aber ganz gaben die Dänen ihre Pläne nicht auf, immer wieder machten sie Versuche, die volle Herrschaft zu erlangen, und als unter König Ethelred der grosse Massenmord der auf der Insel wohnhaften Dänen geschehen war, kam furcht- bare Vergeltung. Stärker denn je erschienen die alten Feinde und unterwarfen sich das angelsächsische Reich, welches allmälig aus sieben einzelnen Königreichen zu einem Ganzen verschmolzen worden war. London spielte damals schon eine ansehnliche Rolle und behauptete sich darin auch unter den beiden gewaltigen dänischen Herrschern Sven und Knut im XI. Jahrhunderte. Nach dem Tode Knut’s gelang es jedoch der alten Sachsen-

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Zitationshilfe: Lehnert, Josef von u. a.: Die Seehäfen des Weltverkehrs. Bd. 1. Wien, 1891, S. 918. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lehnert_seehaefen01_1891/938>, abgerufen am 23.11.2024.