Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_077.001 ple_077.021 1) ple_077.041
Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn ple_077.042 in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben. ple_077.001 ple_077.021 1) ple_077.041
Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn ple_077.042 in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0091" n="77"/><lb n="ple_077.001"/> erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der <lb n="ple_077.002"/> Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren <lb n="ple_077.003"/> Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der <lb n="ple_077.004"/> malerischen Beiwörter u. s. w. als unumstößliche Wahrheiten gelten. Was <lb n="ple_077.005"/> Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht, <lb n="ple_077.006"/> vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich <lb n="ple_077.007"/> auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen <lb n="ple_077.008"/> der Dichtkunst auszuschalten, — seltsam genug für den genialen Bahnbrecher <lb n="ple_077.009"/> sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm <hi rendition="#g">Zeichen</hi> <lb n="ple_077.010"/> und „bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des <lb n="ple_077.011"/> Zeichens empfunden werden“. Die Kraft der Poesie liegt also — wie bei <lb n="ple_077.012"/> Lessing — ganz und gar in dem <hi rendition="#g">Sinn</hi> der Worte, und noch in der Kalligone <lb n="ple_077.013"/> heißt es (Werke, her. v. Suphan XXII S. 326): „Das Symbolische der Laute oder <lb n="ple_077.014"/> gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der <lb n="ple_077.015"/> Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, <lb n="ple_077.016"/> ihr selbst aber eigene Welt, <hi rendition="#g">Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten.</hi>“ <lb n="ple_077.017"/> So bleibt es denn fast hundert Jahre hindurch die herrschende Meinung, daß <lb n="ple_077.018"/> Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der <lb n="ple_077.019"/> Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch <lb n="ple_077.020"/> die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten.<note xml:id="ple_077_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_077.041"/> Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat <hi rendition="#g">Jonas Cohn</hi> <lb n="ple_077.042"/> in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben.</note> </p> <p><lb n="ple_077.021"/> Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert <lb n="ple_077.022"/> und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere <lb n="ple_077.023"/> die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine <lb n="ple_077.024"/> Erkenntnis hervor, daß das Verhältnis des Worts zur Anschauung keineswegs <lb n="ple_077.025"/> so einfach ist, wie es die frühere Theorie auffaßte, daß es mit dem Ausdruck <lb n="ple_077.026"/> <hi rendition="#g">Zeichen</hi> nur sehr unzulänglich wiedergegeben wird, und daß die <lb n="ple_077.027"/> Rede eine Reihe von psychologischen Wirkungen beabsichtigt und auslöst, <lb n="ple_077.028"/> die durchaus nicht auf die Erweckung innerlicher Anschauungsbilder zurückzuführen <lb n="ple_077.029"/> sind. Anderseits führte der künstlerische Gegensatz zwischen Naturalismus <lb n="ple_077.030"/> und Neuromantik, wie er namentlich in der französischen Literatur <lb n="ple_077.031"/> mit Schärfe hervortrat, zu der besonderen Frage, ob die Eigenart der Poesie <lb n="ple_077.032"/> wirklich auf der Fähigkeit der Sprache, bestimmte Anschauungen hervorzurufen, <lb n="ple_077.033"/> beruhe oder vielmehr auf ihrem musikalischen Charakter ohne Beziehung <lb n="ple_077.034"/> auf inhaltliche Anschauung. Während die naturalistischen Romandichter, <lb n="ple_077.035"/> Flaubert, die Brüder Goncourt und Zola mit allen Kräften des Verstandes <lb n="ple_077.036"/> wie der Phantasie auf die höchste bildliche Anschaulichkeit der Sprache <lb n="ple_077.037"/> hinarbeiteten und darüber vielfach in die vorlessingsche Art der Beschreibungen <lb n="ple_077.038"/> zurückfielen, war den symbolistischen Dichtern, wie Mallarmé und <lb n="ple_077.039"/> Verlaine, in Deutschland Stefan George und seinem Kreise, die Sprache <lb n="ple_077.040"/> vor allem ein musikalisches Instrument: die Worte erwecken, freilich nicht </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [77/0091]
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erklärlich, daß seine Kritik so wenig nachgewirkt hat und daß der ple_077.002
Schulästhetik noch heute die Grundanschauungen des Laokoon mit ihren ple_077.003
Konsequenzen, den Lehren vom fruchtbarsten Moment, von der Einheit der ple_077.004
malerischen Beiwörter u. s. w. als unumstößliche Wahrheiten gelten. Was ple_077.005
Herder unter Energie der Rede versteht, ist keineswegs klar herausgebracht, ple_077.006
vielmehr scheint er mit der Bedeutung des sukzessiven Charakters zugleich ple_077.007
auch die übrigen Wesenseigentümlichkeiten der Sprache aus dem Wesen ple_077.008
der Dichtkunst auszuschalten, — seltsam genug für den genialen Bahnbrecher ple_077.009
sprachwissenschaftlicher Forschung. Die Worte bleiben ihm Zeichen ple_077.010
und „bei keinem Zeichen muß das Zeichen selbst, sondern der Sinn des ple_077.011
Zeichens empfunden werden“. Die Kraft der Poesie liegt also — wie bei ple_077.012
Lessing — ganz und gar in dem Sinn der Worte, und noch in der Kalligone ple_077.013
heißt es (Werke, her. v. Suphan XXII S. 326): „Das Symbolische der Laute oder ple_077.014
gar der Buchstaben bleibt in einer uns geläufigen Sprache außerhalb der ple_077.015
Seele. Diese schafft und bildet sich aus Worten eine diesen ganz fremde, ple_077.016
ihr selbst aber eigene Welt, Ideen, Bilder, wesenhafte Gestalten.“ ple_077.017
So bleibt es denn fast hundert Jahre hindurch die herrschende Meinung, daß ple_077.018
Worte nur Zeichen für sinnliche Anschauungen seien und solche in der ple_077.019
Seele erweckten, daß es mithin auch in der Poesie darauf ankomme, durch ple_077.020
die Mittel der Sprache anschauliche Bilder zu gestalten. 1)
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Allein von zwei verschiedenen Seiten wurde diese Meinung allmählich erschüttert ple_077.022
und in Frage gestellt. Einmal rief die wissenschaftliche, insbesondere ple_077.023
die psychologische Untersuchung über das Wesen der Sprache die allgemeine ple_077.024
Erkenntnis hervor, daß das Verhältnis des Worts zur Anschauung keineswegs ple_077.025
so einfach ist, wie es die frühere Theorie auffaßte, daß es mit dem Ausdruck ple_077.026
Zeichen nur sehr unzulänglich wiedergegeben wird, und daß die ple_077.027
Rede eine Reihe von psychologischen Wirkungen beabsichtigt und auslöst, ple_077.028
die durchaus nicht auf die Erweckung innerlicher Anschauungsbilder zurückzuführen ple_077.029
sind. Anderseits führte der künstlerische Gegensatz zwischen Naturalismus ple_077.030
und Neuromantik, wie er namentlich in der französischen Literatur ple_077.031
mit Schärfe hervortrat, zu der besonderen Frage, ob die Eigenart der Poesie ple_077.032
wirklich auf der Fähigkeit der Sprache, bestimmte Anschauungen hervorzurufen, ple_077.033
beruhe oder vielmehr auf ihrem musikalischen Charakter ohne Beziehung ple_077.034
auf inhaltliche Anschauung. Während die naturalistischen Romandichter, ple_077.035
Flaubert, die Brüder Goncourt und Zola mit allen Kräften des Verstandes ple_077.036
wie der Phantasie auf die höchste bildliche Anschaulichkeit der Sprache ple_077.037
hinarbeiteten und darüber vielfach in die vorlessingsche Art der Beschreibungen ple_077.038
zurückfielen, war den symbolistischen Dichtern, wie Mallarmé und ple_077.039
Verlaine, in Deutschland Stefan George und seinem Kreise, die Sprache ple_077.040
vor allem ein musikalisches Instrument: die Worte erwecken, freilich nicht
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Eine belehrende Übersicht über die Entwicklung des Problems hat Jonas Cohn ple_077.042
in der Zeitschrift für Ästhetik (1907, Aprilheft) gegeben.
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