Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_075.001 ple_075.014 ple_075.041 ple_075.001 ple_075.014 ple_075.041 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0089" n="75"/><lb n="ple_075.001"/> anstrebt. Die Bedeutung dieses Wortes geht also weit über den Umkreis des <lb n="ple_075.002"/> Gesichtssinnes hinaus, von dem es ursprünglich hergenommen ist. Der <lb n="ple_075.003"/> Musiker vermag Schmerz und Freude, Kampf und Sieg anschaulich darzustellen, <lb n="ple_075.004"/> ja, das Meer im Sturm oder den Bach, der in friedlicher Landschaft <lb n="ple_075.005"/> sanft dahinfließt (wie Richard Wagner im Fliegenden Holländer oder <lb n="ple_075.006"/> Beethoven in der Symphonie pastorale.) Aber es ist klar, daß diese Art <lb n="ple_075.007"/> von Anschaulichkeit eine ganz andere ist als diejenige, die der Maler oder <lb n="ple_075.008"/> Bildner erstrebt. Diese Verschiedenheit hängt nicht nur äußerlich, sondern <lb n="ple_075.009"/> organisch, ja, im innersten Kern mit der Natur der Darstellungsmittel zusammen, <lb n="ple_075.010"/> welche dem Künstler zu Gebote stehen. Was für eine Art von <lb n="ple_075.011"/> Anschaulichkeit ist es nun, die der Dichter mit <hi rendition="#g">seinem</hi> Kunstmittel, der <lb n="ple_075.012"/> Sprache, erstreben und erreichen kann? Diese Frage ist nichts anderes als <lb n="ple_075.013"/> die Frage nach dem Wesen der Poesie überhaupt.</p> <p><lb n="ple_075.014"/><hi rendition="#g">Lessing</hi> war der erste, der den Versuch gemacht hat, die Poesie als <lb n="ple_075.015"/> Wortkunst zu betrachten und einige ihrer wichtigsten Stilgesetze aus dieser <lb n="ple_075.016"/> ihrer Natur abzuleiten. Und es wird dies der Ruhmestitel seines Laokoon <lb n="ple_075.017"/> bleiben, auch wenn sich die Einzelheiten seiner Lehre nicht mehr als stichhaltig <lb n="ple_075.018"/> erweisen. Gegenüber einer literarischen Richtung, die in der Poesie <lb n="ple_075.019"/> eine redende Malerei sah und von dem Dichter Bilder verlangte, hob er so <lb n="ple_075.020"/> scharf wie zutreffend hervor, daß malerische und dichterische Anschaulichkeit <lb n="ple_075.021"/> durchaus verschiedene Begriffe sind und ebenso verschiedene Eigenschaften <lb n="ple_075.022"/> von dem Kunstwerk voraussetzen. „Man läßt sich bloß von der <lb n="ple_075.023"/> Zweideutigkeit des Worts verführen, wenn man die Sache anders nimmt.“ <lb n="ple_075.024"/> (Laokoon Abschnitt 14.) Indem er nun aber daran geht, diese Verschiedenheit <lb n="ple_075.025"/> „aus ihren ersten Gründen herzuleiten“, zeigt sich, daß er das Wesen <lb n="ple_075.026"/> der Sprache zu äußerlich und flach, zu rationalistisch faßt: er steht in dieser <lb n="ple_075.027"/> Hinsicht wie in mancher anderen unter dem Banne seines Zeitalters. Worte <lb n="ple_075.028"/> sind ihm Zeichen, sogar willkürliche Zeichen, die der <hi rendition="#g">Nachahmung</hi> von <lb n="ple_075.029"/> Gegenständen dienen wie die Farben und Umrisse des Malers: der Unterschied <lb n="ple_075.030"/> ist nur der, daß diese letzteren nebeneinander im Raum existieren, <lb n="ple_075.031"/> während jene in der Zeit aufeinander folgen. Da nun „unstreitig die <lb n="ple_075.032"/> Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen“, so <lb n="ple_075.033"/> folgt daraus, „daß Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen <lb n="ple_075.034"/> Gegenstände der Malerei, Handlungen der eigentliche Gegenstand <lb n="ple_075.035"/> der Poesie sind“. Es folgt ferner, daß der Dichter sich vergebens bemühen <lb n="ple_075.036"/> wird, durch Schilderungen die Anschaulichkeit des Nebeneinander im Raum <lb n="ple_075.037"/> zu erreichen, die nur dem Bilde des Malers sich eignet. Das Gebiet seiner <lb n="ple_075.038"/> Kunst ist das Sukzessive. Daher muß er das Nebeneinander in ein Nacheinander <lb n="ple_075.039"/> verwandeln, wenn er anschaulich wirken, Anschauungen hervorrufen <lb n="ple_075.040"/> will.</p> <p><lb n="ple_075.041"/> Man sieht, hiernach würden die Anschauungskomplexe in der Phantasie <lb n="ple_075.042"/> auf verschiedenen Wegen hervorgebracht werden, die Elemente aber, <lb n="ple_075.043"/> aus denen sie sich zusammensetzen, dieselben bleiben, und die Anschaulichkeit </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [75/0089]
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anstrebt. Die Bedeutung dieses Wortes geht also weit über den Umkreis des ple_075.002
Gesichtssinnes hinaus, von dem es ursprünglich hergenommen ist. Der ple_075.003
Musiker vermag Schmerz und Freude, Kampf und Sieg anschaulich darzustellen, ple_075.004
ja, das Meer im Sturm oder den Bach, der in friedlicher Landschaft ple_075.005
sanft dahinfließt (wie Richard Wagner im Fliegenden Holländer oder ple_075.006
Beethoven in der Symphonie pastorale.) Aber es ist klar, daß diese Art ple_075.007
von Anschaulichkeit eine ganz andere ist als diejenige, die der Maler oder ple_075.008
Bildner erstrebt. Diese Verschiedenheit hängt nicht nur äußerlich, sondern ple_075.009
organisch, ja, im innersten Kern mit der Natur der Darstellungsmittel zusammen, ple_075.010
welche dem Künstler zu Gebote stehen. Was für eine Art von ple_075.011
Anschaulichkeit ist es nun, die der Dichter mit seinem Kunstmittel, der ple_075.012
Sprache, erstreben und erreichen kann? Diese Frage ist nichts anderes als ple_075.013
die Frage nach dem Wesen der Poesie überhaupt.
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Lessing war der erste, der den Versuch gemacht hat, die Poesie als ple_075.015
Wortkunst zu betrachten und einige ihrer wichtigsten Stilgesetze aus dieser ple_075.016
ihrer Natur abzuleiten. Und es wird dies der Ruhmestitel seines Laokoon ple_075.017
bleiben, auch wenn sich die Einzelheiten seiner Lehre nicht mehr als stichhaltig ple_075.018
erweisen. Gegenüber einer literarischen Richtung, die in der Poesie ple_075.019
eine redende Malerei sah und von dem Dichter Bilder verlangte, hob er so ple_075.020
scharf wie zutreffend hervor, daß malerische und dichterische Anschaulichkeit ple_075.021
durchaus verschiedene Begriffe sind und ebenso verschiedene Eigenschaften ple_075.022
von dem Kunstwerk voraussetzen. „Man läßt sich bloß von der ple_075.023
Zweideutigkeit des Worts verführen, wenn man die Sache anders nimmt.“ ple_075.024
(Laokoon Abschnitt 14.) Indem er nun aber daran geht, diese Verschiedenheit ple_075.025
„aus ihren ersten Gründen herzuleiten“, zeigt sich, daß er das Wesen ple_075.026
der Sprache zu äußerlich und flach, zu rationalistisch faßt: er steht in dieser ple_075.027
Hinsicht wie in mancher anderen unter dem Banne seines Zeitalters. Worte ple_075.028
sind ihm Zeichen, sogar willkürliche Zeichen, die der Nachahmung von ple_075.029
Gegenständen dienen wie die Farben und Umrisse des Malers: der Unterschied ple_075.030
ist nur der, daß diese letzteren nebeneinander im Raum existieren, ple_075.031
während jene in der Zeit aufeinander folgen. Da nun „unstreitig die ple_075.032
Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen“, so ple_075.033
folgt daraus, „daß Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen ple_075.034
Gegenstände der Malerei, Handlungen der eigentliche Gegenstand ple_075.035
der Poesie sind“. Es folgt ferner, daß der Dichter sich vergebens bemühen ple_075.036
wird, durch Schilderungen die Anschaulichkeit des Nebeneinander im Raum ple_075.037
zu erreichen, die nur dem Bilde des Malers sich eignet. Das Gebiet seiner ple_075.038
Kunst ist das Sukzessive. Daher muß er das Nebeneinander in ein Nacheinander ple_075.039
verwandeln, wenn er anschaulich wirken, Anschauungen hervorrufen ple_075.040
will.
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Man sieht, hiernach würden die Anschauungskomplexe in der Phantasie ple_075.042
auf verschiedenen Wegen hervorgebracht werden, die Elemente aber, ple_075.043
aus denen sie sich zusammensetzen, dieselben bleiben, und die Anschaulichkeit
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