Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_057.001 ple_057.022 1) ple_057.041
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. ple_057.042 Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an ple_057.043 Wilhelm v. Humboldt). ple_057.001 ple_057.022 1) ple_057.041
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. ple_057.042 Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an ple_057.043 Wilhelm v. Humboldt). <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0071" n="57"/><lb n="ple_057.001"/> verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung <lb n="ple_057.002"/> dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft <lb n="ple_057.003"/> hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden <lb n="ple_057.004"/> Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand <lb n="ple_057.005"/> der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des <lb n="ple_057.006"/> zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben <lb n="ple_057.007"/> sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen; <lb n="ple_057.008"/> an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die <lb n="ple_057.009"/> künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise <lb n="ple_057.010"/> der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet <lb n="ple_057.011"/> sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich <lb n="ple_057.012"/> irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist, <lb n="ple_057.013"/> einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit <lb n="ple_057.014"/> des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber <lb n="ple_057.015"/> dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt <lb n="ple_057.016"/> sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der <lb n="ple_057.017"/> Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention <lb n="ple_057.018"/> des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke <lb n="ple_057.019"/> Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die <lb n="ple_057.020"/> Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen <lb n="ple_057.021"/> vermag.</p> <p><lb n="ple_057.022"/> Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist <lb n="ple_057.023"/> das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze <lb n="ple_057.024"/> umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich <lb n="ple_057.025"/> zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig <lb n="ple_057.026"/> von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch <lb n="ple_057.027"/> wissen wir aus dem eigenen Zeugnis des Dichters, daß er beim Abschluß <lb n="ple_057.028"/> des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja, <lb n="ple_057.029"/> den zweiten Teil wenigstens aus <hi rendition="#g">einer</hi> Konzeption heraus geschrieben zu <lb n="ple_057.030"/> haben,<note xml:id="ple_057_1" place="foot" n="1)"><lb n="ple_057.041"/> Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. <lb n="ple_057.042"/> Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an <lb n="ple_057.043"/> Wilhelm v. Humboldt).</note> und hieraus erwächst dem Erklärer die Verpflichtung, dieser Einheit <lb n="ple_057.031"/> nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten <lb n="ple_057.032"/> Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar. <lb n="ple_057.033"/> Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine <lb n="ple_057.034"/> große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen <lb n="ple_057.035"/> müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen. <lb n="ple_057.036"/> Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische <lb n="ple_057.037"/> Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt <lb n="ple_057.038"/> nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet, <lb n="ple_057.039"/> sondern sind durch diesen nur eben angeregte eigne Schöpfungen. <lb n="ple_057.040"/> Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [57/0071]
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verwirklichen wollte, daß er die Bestandteile der ursprünglichen Dichtung ple_057.002
dazu entsprechend umgearbeitet oder doch mit den späteren verknüpft ple_057.003
hat. Diese letzte und abschließende Intention ist es, die dem objektiv vorliegenden ple_057.004
Gedicht die Einheit gibt und die dementsprechend den Gegenstand ple_057.005
der künstlerischen Erklärung bildet. Wenn hier und da Spuren des ple_057.006
zeitlich verschiedenen Ursprungs wider Willen des Dichters zurückgeblieben ple_057.007
sein sollten, so würde die Erklärung freilich genötigt sein, darauf hinzuweisen; ple_057.008
an solchen Stellen also würde die genetische Erklärung die ple_057.009
künstlerische ersetzen müssen. Allein es wird das offenbar nur ausnahmsweise ple_057.010
der Fall sein. In den genannten beiden Goetheschen Werken findet ple_057.011
sich m. E. keine Spur davon; und es ist verfehlt, wenn man, sobald sich ple_057.012
irgendwelche sachliche Schwierigkeiten darbieten, immer gleich bereit ist, ple_057.013
einen Widerspruch anzuerkennen und ihn auf die zeitliche Verschiedenheit ple_057.014
des Ursprungs zurückzuführen, wie das z. B. manche Erklärer gegenüber ple_057.015
dem freilich nicht einfachen Charakterbild des Antonio tun. Man versperrt ple_057.016
sich hierdurch geradezu den Weg zum künstlerischen Verständnis der ple_057.017
Dichtung oder, was dasselbe sagen will, der abschließenden Intention ple_057.018
des Dichters. Niemals hat ein großer Künstler in einem seiner Werke ple_057.019
Schichten aus verschiedenen Zeiten einfach übereinander gelegt, oder die ple_057.020
Nähte so grob geführt, daß man sie als solche ohne weiteres zu sehen ple_057.021
vermag.
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Der Faust bildet nun freilich eine Ausnahme. Diese Dichtung ist ple_057.023
das Werk eines ganzen langen und reichen Lebens. Eine das Ganze ple_057.024
umfassende Gesamtanschauung ist dem Dichter bekanntlich erst sehr allmählich ple_057.025
zustande gekommen; große Teile des Werkes sind unabhängig ple_057.026
von dieser Anschauung geschaffen und veröffentlicht worden. Und doch ple_057.027
wissen wir aus dem eigenen Zeugnis des Dichters, daß er beim Abschluß ple_057.028
des Werkes überzeugt war, es zu einer Einheit zusammengeschlossen, ja, ple_057.029
den zweiten Teil wenigstens aus einer Konzeption heraus geschrieben zu ple_057.030
haben, 1) und hieraus erwächst dem Erklärer die Verpflichtung, dieser Einheit ple_057.031
nachzugeben, soweit sie sich irgend durchführen läßt, ohne den Einzelheiten ple_057.032
Gewalt anzutun. Allerdings ist diese Aufgabe nur zum Teil erfüllbar. ple_057.033
Für die Bedeutung ganzer Szenen und Abschnitte sowohl, wie für eine ple_057.034
große Anzahl einzelner Wendungen und Gedanken wird man davon absehen ple_057.035
müssen, sie aus dem Zusammenhang des Ganzen verstehen zu wollen. ple_057.036
Viele Teile des Werks leben ihr eigenes Leben. Die Helena, die klassische ple_057.037
Walpurgisnacht und so manche andere Abschnitte verdanken ihren Gehalt ple_057.038
nicht dem lockeren Zusammenhang, der sie mit der Gesamtdichtung verbindet, ple_057.039
sondern sind durch diesen nur eben angeregte eigne Schöpfungen. ple_057.040
Im Faust also wird die genetische Erklärung ganz besonders oft der ästhetischen
1) ple_057.041
Vgl. Pniower, Goethes Faust. Zeugnisse und Exkurse zu seiner Entstehungsgeschichte. ple_057.042
Berlin 1899. S. 267 ff. (besonders den Brief an Heinrich Meyer) und 295 (an ple_057.043
Wilhelm v. Humboldt).
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