Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_258.001 ple_258.001 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0272" n="258"/><lb n="ple_258.001"/> von ihnen der Meinung, daß das Wesen des Tragischen nur aus <hi rendition="#g">seiner</hi> <lb n="ple_258.002"/> metaphysischen Anschauung heraus theoretisch verständlich sei, daß folglich <lb n="ple_258.003"/> gefühlsmäßig der tragische Dichter diese Anschauung teile. Daher <lb n="ple_258.004"/> zeigen denn auch, wie die metaphysischen Systeme selber, so die <lb n="ple_258.005"/> Theorien des Tragischen, die aus ihnen hervorgingen, vollkommen entgegengesetzten <lb n="ple_258.006"/> Inhalt und widerlegen sich selbst, sobald man sie untereinander <lb n="ple_258.007"/> oder mit den Tatsachen vergleicht. In diesem Sinne, aber <lb n="ple_258.008"/> nur in diesem, hat Lipps recht, wenn er bestreitet, daß die Tragödie mit <lb n="ple_258.009"/> dem Inhalt einer bestimmten metaphysischen Anschauungsweise irgend <lb n="ple_258.010"/> etwas zu tun habe, während Volkelt zum entgegengesetzten Urteil neigt. <lb n="ple_258.011"/> Allein andrerseits ist doch klar, daß allgemein gültige Werte, und ohne <lb n="ple_258.012"/> solche ist das Tragische nicht denkbar, nur auf dem Boden gemeinsamer <lb n="ple_258.013"/> Anschauungen erwachsen können. Metaphysisch begründet brauchen diese <lb n="ple_258.014"/> nicht zu sein, wohl aber sind sie ethischen Charakters: sie fließen <lb n="ple_258.015"/> eben aus einer bestimmten Weise, das Leben selbst und seine einzelnen <lb n="ple_258.016"/> Erscheinungen zu beurteilen. Ein Publikum etwa, das in der Geschwisterliebe <lb n="ple_258.017"/> oder im Patriotismus kein sittliches Ideal sähe, würde von <lb n="ple_258.018"/> der Antigone oder der Jungfrau von Orleans keine tragische Wirkung <lb n="ple_258.019"/> empfangen können; und ganz allgemein setzt die Möglichkeit der tragischen <lb n="ple_258.020"/> Erhebung voraus, daß es Ideale gibt, für die es lohnt zu leiden und zu <lb n="ple_258.021"/> sterben, Werte, die höher als das Leben zu schätzen sind. Es ist die <lb n="ple_258.022"/> Grundstimmung der Tragödie, die Grundanschauung jedes tragischen <lb n="ple_258.023"/> Dichters, die Schiller in dem berühmten Schlußwort der Braut von Messina <lb n="ple_258.024"/> zum Ausdruck bringt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht!“ In diesem <lb n="ple_258.025"/> Sinne kann man wohl von einer tragischen Weltanschauung sprechen; sie <lb n="ple_258.026"/> schließt eine optimistisch seichte Wertschätzung des Lebens und seiner <lb n="ple_258.027"/> Güter aus, aber sie ist darum nicht pessimistische Verzweiflung am Leben, <lb n="ple_258.028"/> sondern vielmehr ein todestrotziger oder todesfreudiger Idealismus, der in <lb n="ple_258.029"/> stolzer Entschlossenheit den Kampf mit Gefahren und Leiden aufnimmt, <lb n="ple_258.030"/> weil er Werte kennt, die über Zeit und Tod erhaben sind, der vielleicht <lb n="ple_258.031"/> sogar den Untergang sucht, um diese Überzeugung zu bewähren.</p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [258/0272]
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von ihnen der Meinung, daß das Wesen des Tragischen nur aus seiner ple_258.002
metaphysischen Anschauung heraus theoretisch verständlich sei, daß folglich ple_258.003
gefühlsmäßig der tragische Dichter diese Anschauung teile. Daher ple_258.004
zeigen denn auch, wie die metaphysischen Systeme selber, so die ple_258.005
Theorien des Tragischen, die aus ihnen hervorgingen, vollkommen entgegengesetzten ple_258.006
Inhalt und widerlegen sich selbst, sobald man sie untereinander ple_258.007
oder mit den Tatsachen vergleicht. In diesem Sinne, aber ple_258.008
nur in diesem, hat Lipps recht, wenn er bestreitet, daß die Tragödie mit ple_258.009
dem Inhalt einer bestimmten metaphysischen Anschauungsweise irgend ple_258.010
etwas zu tun habe, während Volkelt zum entgegengesetzten Urteil neigt. ple_258.011
Allein andrerseits ist doch klar, daß allgemein gültige Werte, und ohne ple_258.012
solche ist das Tragische nicht denkbar, nur auf dem Boden gemeinsamer ple_258.013
Anschauungen erwachsen können. Metaphysisch begründet brauchen diese ple_258.014
nicht zu sein, wohl aber sind sie ethischen Charakters: sie fließen ple_258.015
eben aus einer bestimmten Weise, das Leben selbst und seine einzelnen ple_258.016
Erscheinungen zu beurteilen. Ein Publikum etwa, das in der Geschwisterliebe ple_258.017
oder im Patriotismus kein sittliches Ideal sähe, würde von ple_258.018
der Antigone oder der Jungfrau von Orleans keine tragische Wirkung ple_258.019
empfangen können; und ganz allgemein setzt die Möglichkeit der tragischen ple_258.020
Erhebung voraus, daß es Ideale gibt, für die es lohnt zu leiden und zu ple_258.021
sterben, Werte, die höher als das Leben zu schätzen sind. Es ist die ple_258.022
Grundstimmung der Tragödie, die Grundanschauung jedes tragischen ple_258.023
Dichters, die Schiller in dem berühmten Schlußwort der Braut von Messina ple_258.024
zum Ausdruck bringt: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht!“ In diesem ple_258.025
Sinne kann man wohl von einer tragischen Weltanschauung sprechen; sie ple_258.026
schließt eine optimistisch seichte Wertschätzung des Lebens und seiner ple_258.027
Güter aus, aber sie ist darum nicht pessimistische Verzweiflung am Leben, ple_258.028
sondern vielmehr ein todestrotziger oder todesfreudiger Idealismus, der in ple_258.029
stolzer Entschlossenheit den Kampf mit Gefahren und Leiden aufnimmt, ple_258.030
weil er Werte kennt, die über Zeit und Tod erhaben sind, der vielleicht ple_258.031
sogar den Untergang sucht, um diese Überzeugung zu bewähren.
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