Lehmann, Rudolf: Deutsche Poetik. München, 1908.ple_257.001 ple_257.008 ple_257.017 ple_257.033 ple_257.037 ple_257.001 ple_257.008 ple_257.017 ple_257.033 ple_257.037 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0271" n="257"/><lb n="ple_257.001"/> läuternde und erhebende Macht des Todes hervor, die Schiller so schön <lb n="ple_257.002"/> beschreibt: <lb n="ple_257.003"/> <hi rendition="#aq"><lg><l>Der Tod hat eine reinigende Kraft,</l><lb n="ple_257.004"/><l>In seinem unvergänglichen Palaste</l><lb n="ple_257.005"/><l>Zu echter Tugend reinem Diamant</l><lb n="ple_257.006"/><l>Das Sterbliche zu läutern und die Flecken</l><lb n="ple_257.007"/><l>Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.</l></lg></hi></p> <p><lb n="ple_257.008"/> Auch hiervon weiß die Antike, naiver und robuster wie sie in ihrer <lb n="ple_257.009"/> Lebensauffassung ist, noch nichts. In dem Nachrufe dagegen, den Shakespeares <lb n="ple_257.010"/> Antonius seinem Gegner Brutus widmet, oder in dem herrlichen <lb n="ple_257.011"/> Schlußmonolog der Sappho tritt diese Stimmung deutlich hervor. Und <lb n="ple_257.012"/> doch mischt sich in beiden Fällen der Gedanke der Sühne für begangene <lb n="ple_257.013"/> Schuld, wenn auch nur in leisen Untertönen, in den Schlußakkord. Beide <lb n="ple_257.014"/> sind nicht schuldig im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber beide leiden <lb n="ple_257.015"/> unter dem Bewußtsein von Taten und Folgen, die sie zu Boden drücken <lb n="ple_257.016"/> und die nicht ungeschehen zu machen sind.</p> <p><lb n="ple_257.017"/> Bleibt nun aber in den zuletzt genannten beiden Dramen das <lb n="ple_257.018"/> Moment der Sühne immerhin ein untergeordnetes gegenüber dem Gedanken <lb n="ple_257.019"/> der Erlösung, so fließen in vielen, ja den meisten modernen Tragödien <lb n="ple_257.020"/> beide Auffassungen zu untrennbarer Einheit zusammen: so ist's <lb n="ple_257.021"/> schon im Othello; so tötet sich Schillers Don Cäsar, um sich „richtend zu <lb n="ple_257.022"/> strafen“ und doch zugleich auch, um durch freien Tod die Kette des Geschicks <lb n="ple_257.023"/> zu brechen und sich über Schuld und Leiden zu erheben. So erscheint <lb n="ple_257.024"/> Wallensteins Ermordung als Strafe für doppelten Verrat am Kaiser <lb n="ple_257.025"/> und an dem alten Waffengefährten, und doch erspart sie ihm den Schimpf <lb n="ple_257.026"/> der Erniedrigung, der Gefangenschaft oder eines unstet flüchtenden Lebens. <lb n="ple_257.027"/> Als Erlösung und Sühne zugleich erscheint auch das Ende der beiden <lb n="ple_257.028"/> Liebenden in den Wahlverwandtschaften, ja, so stark empfinden wir den <lb n="ple_257.029"/> Tod als Friedensbringer und Erlöser, daß uns tragische Handlungen, die <lb n="ple_257.030"/> nicht mit dem physischen Untergang des Helden schließen, unbefriedigt <lb n="ple_257.031"/> und unruhig lassen, wie man am Schluß von Goethes Tasso oder von <lb n="ple_257.032"/> Hebbels Judith beobachten kann. —</p> <p><lb n="ple_257.033"/> Das führt uns auf eine letzte Frage, die in neuerer Zeit mehrfach <lb n="ple_257.034"/> umstritten worden ist: ist die tragische Dichtung, wie wir es von der humoristischen <lb n="ple_257.035"/> gesehen haben, der Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung <lb n="ple_257.036"/> des Dichters, setzt sie eine solche voraus oder verkündet sie dieselbe?</p> <p><lb n="ple_257.037"/> Wir wissen, daß die metaphysischen Ästhetiker des 19. Jahrhunderts <lb n="ple_257.038"/> diese Frage unbedingt bejahten. Selbstverständlich waren Hegel und die <lb n="ple_257.039"/> Seinigen, waren Schelling und Schopenhauer nicht der Meinung, daß Dichter <lb n="ple_257.040"/> oder Zuschauer ihre Systeme kennen und ihre Lehren in abstrakto anerkennen <lb n="ple_257.041"/> müßten. Schopenhauer hat sich niemals eingebildet, daß die <lb n="ple_257.042"/> großen Trauerspieldichter die Lehren des Pessimismus verstandesmäßig <lb n="ple_257.043"/> verträten und ihre Zuschauer dazu bekehren wollten. Wohl aber war jeder </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [257/0271]
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läuternde und erhebende Macht des Todes hervor, die Schiller so schön ple_257.002
beschreibt: ple_257.003
Der Tod hat eine reinigende Kraft, ple_257.004
In seinem unvergänglichen Palaste ple_257.005
Zu echter Tugend reinem Diamant ple_257.006
Das Sterbliche zu läutern und die Flecken ple_257.007
Der mangelhaften Menschheit zu verzehren.
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Auch hiervon weiß die Antike, naiver und robuster wie sie in ihrer ple_257.009
Lebensauffassung ist, noch nichts. In dem Nachrufe dagegen, den Shakespeares ple_257.010
Antonius seinem Gegner Brutus widmet, oder in dem herrlichen ple_257.011
Schlußmonolog der Sappho tritt diese Stimmung deutlich hervor. Und ple_257.012
doch mischt sich in beiden Fällen der Gedanke der Sühne für begangene ple_257.013
Schuld, wenn auch nur in leisen Untertönen, in den Schlußakkord. Beide ple_257.014
sind nicht schuldig im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber beide leiden ple_257.015
unter dem Bewußtsein von Taten und Folgen, die sie zu Boden drücken ple_257.016
und die nicht ungeschehen zu machen sind.
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Bleibt nun aber in den zuletzt genannten beiden Dramen das ple_257.018
Moment der Sühne immerhin ein untergeordnetes gegenüber dem Gedanken ple_257.019
der Erlösung, so fließen in vielen, ja den meisten modernen Tragödien ple_257.020
beide Auffassungen zu untrennbarer Einheit zusammen: so ist's ple_257.021
schon im Othello; so tötet sich Schillers Don Cäsar, um sich „richtend zu ple_257.022
strafen“ und doch zugleich auch, um durch freien Tod die Kette des Geschicks ple_257.023
zu brechen und sich über Schuld und Leiden zu erheben. So erscheint ple_257.024
Wallensteins Ermordung als Strafe für doppelten Verrat am Kaiser ple_257.025
und an dem alten Waffengefährten, und doch erspart sie ihm den Schimpf ple_257.026
der Erniedrigung, der Gefangenschaft oder eines unstet flüchtenden Lebens. ple_257.027
Als Erlösung und Sühne zugleich erscheint auch das Ende der beiden ple_257.028
Liebenden in den Wahlverwandtschaften, ja, so stark empfinden wir den ple_257.029
Tod als Friedensbringer und Erlöser, daß uns tragische Handlungen, die ple_257.030
nicht mit dem physischen Untergang des Helden schließen, unbefriedigt ple_257.031
und unruhig lassen, wie man am Schluß von Goethes Tasso oder von ple_257.032
Hebbels Judith beobachten kann. —
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Das führt uns auf eine letzte Frage, die in neuerer Zeit mehrfach ple_257.034
umstritten worden ist: ist die tragische Dichtung, wie wir es von der humoristischen ple_257.035
gesehen haben, der Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung ple_257.036
des Dichters, setzt sie eine solche voraus oder verkündet sie dieselbe?
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Wir wissen, daß die metaphysischen Ästhetiker des 19. Jahrhunderts ple_257.038
diese Frage unbedingt bejahten. Selbstverständlich waren Hegel und die ple_257.039
Seinigen, waren Schelling und Schopenhauer nicht der Meinung, daß Dichter ple_257.040
oder Zuschauer ihre Systeme kennen und ihre Lehren in abstrakto anerkennen ple_257.041
müßten. Schopenhauer hat sich niemals eingebildet, daß die ple_257.042
großen Trauerspieldichter die Lehren des Pessimismus verstandesmäßig ple_257.043
verträten und ihre Zuschauer dazu bekehren wollten. Wohl aber war jeder
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